Ein Leben ohne Kapitalismus

Anders wirtschaften: Initiativen in Spanien wollen »Ausstieg aus dem System«

  • Tim Zülch
  • Lesedauer: 3 Min.
Zwischen Minuswachstum und Selbsterfahrung: Spanische AktivistInnen organisieren eine Kampagne zum Ausstieg aus dem System.
Cover der spanischen Bewegungszeitschrift »Crisis« (Ausschnitt)
Cover der spanischen Bewegungszeitschrift »Crisis« (Ausschnitt)

Am Sonntagnachmittag im Zentrum Barcelonas. Ein Platz mit Palmen, Spielplatz und einem Sand-Fußballfeld. Ein Holzzaun umrahmt das handballfeldgroße Gelände. Ein Dutzend Personen sitzt auf Plastikstühlen, andere stehen. Die Menschen lauschen einem Vortrag über richtige Kompostierung. Gerade findet ein »Pic-Nic para el decrecimento« (Picknick für ein Minus- oder Postwachstum) statt. Vor drei Jahren erkämpfte sich eine Nachbarschaftsinitiative das Gelände, jetzt wachsen hier zum Beispiel Minze, Kartoffeln, Tomaten, Salbei und Thymian. »Wir machen das hier auch zur Bildung. Doch auf lange Sicht ist das hier auch ein Projekt, um sich vom Kapitalismus unabhängig zu machen«, sagt ein Mann mit weißem Kittel und schneidet ein paar Minzblätter für einen Tee ab. Sechs Mitglieder habe die kleine Initiative momentan, doch das Gemüse wachse nicht für den Privatbedarf. »Wenn Gemüse reif ist, machen wir ein Nachbarschafts-Essen im Garten.«

Das ist natürlich noch kein Ausstieg aus dem Kapitalismus, aber es ist ein kleiner Mosaikstein einer Kampagne, die in ganz Spanien organisiert wird.

»Podemos! Vivir sin Capitalismo« ist einer ihrer Slogans und gleichzeitig der Titel einer spanienweit verteilten Zeitung, der übersetzt »Wir können! Leben ohne Kapitalismus« heißt. Alle Bereiche des Lebens sollen, so die Organisatoren der Kampagne, nach und nach erfasst werden, indem Konzepte für einen Ausstieg aus dem System erarbeitet werden: Arbeit, Konsum, Lebensmittelproduktion, Transport, Energie, Bildung.

Im April fand im baskischen Ruesta eine Konferenz mit rund 500 TeilnehmerInnen unterschiedlicher Gruppen statt, um sich kennen zu lernen, ihre Projekte vorzustellen und den schrittweisen Ausstieg aus dem Kapitalismus vorzubereiten. Beteiligt waren Landkooperativen, Gruppen, die sich auf alternative Energien spezialisiert haben, Film- und Zeitungskollektive, Menschen aus Tauschbörsen, Permakultur-AnhängerInnen und viele andere mehr. Maßgeblich organisiert hat die Konferenz Enric Duran. Er genießt in der spanischen Linken ein hohes Ansehen wegen einer Enteignungsaktion vor zwei Jahren, bei der er von Banken rund eine halbe Million Euro ergaunerte und für linke Projekte bereitstellte (ND berichtete). Enric Duran plädiert konkret für eine Art Bankenstreik, zu dem man sich auf einer seiner Webseiten anmelden kann (www.17-s.info). Bankschulden sollen möglichst kollektiv nicht mehr zurückgezahlt werden und im Gegenzug ein ethisches und ökologisches Bankensystem aufgebaut werden. Mit einer Webseite und einem Infoladen koordiniert er die Bewegung mit. »Die Konferenz in Ruesta war ein wichtiger Schritt. Weil es wichtig ist zu wissen, wer wir sind und was wir machen. Aber es ist noch ein weiter Weg.«

Die spanische Decrecimiento-Bewegung schlägt einen ähnlichen Weg ein und versucht wirtschaftliche Bescheidenheit mit sozialem Wachstum zu verbinden. Die Bewegung »Zeitgeist« zum Beispiel hat sich vor zwei Jahren gegründet. Sie strebt eine »ressourcenbasierte« Wirtschaft an und will statt einer Revolution einen schrittweisen sozial und ökologisch basierten Ausstieg aus dem System. Die Zeitgeist-Gruppe aus Valencia plant die Gründung einer Kooperative, um ihren politischen Anspruch auch praktisch umzusetzen.

Auf dem Platz im Zentrum Barcelonas findet mittlerweile eine Tauschbörse für Kleidung, Elektronikartikel und Dienstleistungen statt. »Schenken oder Tauschen. Bezahlen ist nicht«, erklärt ein Aktivist. Rund 30 Leute stehen vor den Tischen, es gibt ein kleines Picknick. Jede große Initiative braucht die Verankerung im Kleinen.

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