Wegsperren der Armut

Der Strafvollzug fokussiert soziale Ungleichheit

  • Hartmut Rübner
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Kriminalitätsstatistik der letzten Jahre weist hierzulande eine stetige Abwärtstendenz auf, die heftig diskutierten Sexualdelikte nicht ausgenommen. Gleichzeitig wird in Erhebungen registriert, dass die allgemein empfundenen Verbrechensängste stetig anwachsen. Über die Gründe kann nur spekuliert werden. Das merkwürdige Auseinanderklaffen von Realität und Empfindung wird meist mit einer Skandalberichterstattung oder den subjektiven Unsicherheitsgefühlen einer überalterten Gesellschaft in Verbindung gebracht.

Sicher ist jedoch, dass die Gesetzgebung den Rufen nach präventiver Überwachung und einer Verschärfung des Strafrechts bereitwillig entgegenkommt. Die Praxis zeigt, dass das Prinzip, die Freiheitsstrafe nur als letztes Mittel anzuwenden, längst nicht mehr gilt. Sinnvolle Alternativen – das Strafgesetzbuch erlaubt Bewährungs- oder Geldstrafen – werden weniger ausgeschöpft. Tatsächlich setzt die offizielle Kriminalpolitik stärker auf eine Verschärfung als auf eine Entkriminalisierung. So wird auf die irrationalen Sicherheitsbedürfnisse mit einer rigorosen Bestrafungspolitik reagiert. Das Versprechen, diese rigoros durchzusetzen, garantiert Wahlerfolge.

Von der öffentlichen Mobilmachung für die Sicherheit jenseits der Grenzen berichtet das Buch »Bestrafen der Armen« von Loïc Wacquant. Der durch seine Zusammenarbeit mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu bekannt gewordene Professor an der University of California, Berkeley, analysiert die Strafrechtspolitik der USA als Austragungsort eines neoliberalen Verwertungs- und Marginalisierungsprozesses. Dort regiert eine brutale Null-Toleranz-Strategie, eine fatale Systemlogik, in der selbst geringfügige Vergehen mit einem harten Strafkatalog geahndet werden, wobei die »klassische« Kriminalität konstant bleibt. Infolge der durchaus beabsichtigten Verarmungsprozesse entstand in Verbindung mit dem Einzug des durchgreifenden Staates eine Hafthyperinflation, die seit den 1980er Jahren eine spezifische Gefängnisindustrie hervorbrachte. Die dramatische Überbelegung der Anstalten verlagern die Behörden verstärkt auf die Straße, wobei der privatwirtschaftliche Imperativ des »just in time« nicht zählen darf. So pendeln die Inhaftierten in Bussen zuweilen wochenlang zwischen den Anstalten hin und her, bis ein Zellenplatz frei wird. Der Gefängnistransport ist mittlerweile zum größten öffentlichen Verkehrsdienstleistungsunternehmen des Landes aufgestiegen.

War es zunächst die Drogendelinquenz, die in den 1980er Jahren die enorme Zuwachsraten brachte, sorgt seither die Internierung von Immigranten für neue Rekorde. Infolge des vornehmlich farbigen, großstädtischen Subproletariats mutierten die Gefängnisse gewissermaßen zu rassenspezifischen Ersatzghettos.

Während also allerorten öffentliche Mittel zusammengestrichen wurden, explodierten die Haushalts- und Personalmittel in der Strafverfolgung. Bereits Ende der 1990er Jahre avancierte der Strafvollzug nach der Zeit- und Leiharbeit sowie dem Wal-Mart-Konzern (Einzelhandel) zum drittgrößten Arbeitgeber des Landes. Die Branche boomt und erwies sich als krisenfest. Dank ihres hohen Organisationsgrades wirken die Berufsverbände der Beamten nicht nur als einflussreiche konservative Lobby, die politische Reformen konsequent ausbremst, aufgrund ihrer großen Verhandlungsmacht fallen sie als potenzieller Kostenfaktor ins Gewicht. Insofern ist es kein Zufall, dass sich private Gefängnisfirmen als preisgünstigere Bewerber etablieren. Da im privaten Gefängnisbetrieb keine Beamtensaläre anfallen, sind die Kosten für personalintensiven Gefängnisbetrieb um einen Faktor von 15 Prozent niedriger zu kalkulieren. Nach den Daten des US-Justizministeriums befanden sich 2007 bereits 7,4 Prozent der fast 1,6 Millionen eingesperrten Erwachsenen in privaten Strafanstalten – insgesamt rund 120 000 Personen. Als Marktführer disponiert die Corrections Corporation derzeit 64 Anstalten: Tendenz insgesamt steigend. Dies betrifft auch die fortschreitende Verwahrlosung der privaten Haftanstalten, für die die Bürgerrechtsgruppen vor allem das Profitmaximierungsinteresse der Gefängnisfirmen verantwortlich machen.

In Deutschland existiert seit 1980 das Komitee für Grundrechte und Demokratie, eine engagierte Bürgerrechtsorganisation, die sich in unterschiedlicher Weise mit den diversen Auswirkungen der Justiz- und Kriminalpolitik auf den Strafvollzug beschäftigt. Die lesenswerte Broschüre »Haftbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland« dokumentiert die Beiträge einer Tagung, in der u. a. die »Projektgruppe Strafvollzug« über ihre langjährige Arbeit berichtet. Zu Wort kommen darüber hinaus Fachleute wie z. B. Richter, Sozialarbeiter oder Gefängnisseelsorger sowie Fachwissenschaftler, die aktuelle Entwicklungen wie z. B. Rechtsschutzdefizite besonders auch für Frauen und Jugendliche aufzeigen. Als radikaldemokratischer Gegener der »totalen Institution« Gefängnis (Erving Goffman) kritisiert der Politikwissenschaftler Wolf-Dieter Narr die inhumane negative »Sozialisation in der schikanösen drogengespickten Welt bürokratischer Haftwillkür« als »kräftiges Überbleibsel schwarzer Pädagogik«. Aus der Insiderperspektive nähert sich Hubert Becker dem Gefängnisalltag. Wie die Sozialwissenschaftlerin Prof. Petra Gehring vorausschickt, ist sein Lesebuch »Ritual Knast« als eine »Phänomenologie des Scheiterns einer Institution« zu verstehen, als eine »grandiose Skizze einer Schattenwirtschaft, die vom Ruin des modernen Strafvollzugs und vielleicht von der Lebenslüge einer ganzen Gesellschaftsform Zeugnis ablegt«.

Die Bilanz dieser Wirtschaft im Schatten muss deshalb zwiespältig ausfallen: Im Jahr 2005 wandten die Länder zusammen 2,3 Mrd. Euro für den laufenden Betrieb von 199 selbstständigen Justizvollzugsanstalten auf. Durch den Verkauf von selbst produzierten Produkten und anderem wurden seinerseits Einnahmen von 167 Mio. Euro erzielt. Inzwischen nötigt ein unerbittliches Sparregime den Gefangenen eine Beteiligung an den Energiekosten ab. Noch nicht allzu weit gediehen ist hingegen die Privatisierung des Gefängnissystems. Als erstes Bundesland preschte Hessen vor, indem es die Justizvollzugsanstalt (JVA) Hünfeld als privat betriebene Gefängnis errichtete. Tatsächlich kann nur von einer Teilprivatisierung von 45 Prozent ausgegangen werden, da der britische Dienstleistungskonzern Serco dabei nur die Privatbediensteten beschäftigt. Allerdings kam schon das erste Modell der öffentlichen Hand teurer zu stehen als das staatliche Gefängnis in Darmstadt. Weitere Projekte in anderen Bundesländern sollen deshalb vorrangig in »Public-Private-Partnership (PPP)« geführt werden.

Nach Zählungen des statistischen Bundesamtes standen 2007 für die rund 75 000 in Deutschland Einsitzenden angeblich 80 000 Haftplätze zur Verfügung. Im Vergleich zu anderen Ländern nimmt Deutschland eine Mittelposition von 90 Gefangenen auf 100 000 Einwohnern ein (1997). In Griechenland waren es lediglich 54 Inhaftierte, während Portugal die europäische Spitzenpostion mit 145 Personen einnimmt. In den USA waren es zu diesem Zeitpunkt 648 Menschen!

Das relativ günstige Verhältnis und die stabilen Insassenzahlen sind indessen einzig auf die seit längerer Zeit abnehmenden Inhaftiertenzahlen bei Verkehrsdelikten sowie die insgesamt moderat steigende Drogendelinquenz zurückzuführen. Der sogenannte »Ausländeranteil« unter den »Strafmündigen« beträgt seit Jahren 23 Prozent bei einem Gesamtanteil von 10 Prozent. Von einer steigenden Kriminalität der Migranten kann demnach keine Rede sein, eher von Integrationsdefiziten (Stichwort Chancengleichheit). Dass sich hierzulande trotz vieler Missstände und mancher Gefängnisskandale keine den USA ähnelnden Katastrophenbedingungen abzeichnen, dürfte dem zwar radikal reduziertem gleichwohl aber noch funktionsfähigen Sozialsystem der Bundesrepublik zuzuschreiben sein. Weitere Einschnitte in dieses werden sich zwangsläufig in einem proportionalen Anstieg der öffentlichen Ausgaben für den Justizvollzug niederschlagen. Letztlich würde eine solche Entwicklung wieder an die von dem Sozialphilosophen Michel Foucault so überaus treffend beschriebene »Geburt des Gefangnisses« zurückführen: an dessen Anfänge als disziplinierende Arbeitshäuser zur Abschreckung jener, die sich der herrschenden Moral- und Wirtschaftsordnung widersetzen.

Hubertus Becker: Ritual Knast. Die Niederlage des Gefängnisses – Eine Bestandsaufnahme. Forum Verlag, 200 S., 13,80 €.
Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.): Haftbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland. Dokumentation einer Öffentlichen Anhörung zu Gefängnispolitik und Knastalltag, 165 S., 8 €.
Loïc Wacquant: Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit. Verlag Barbara Budrich, 359 S., 29,90 €.

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