Eine doppelte Spaltung

Einkommensschere zwischen Ost und West öffnet sich weiter

  • Wolfgang Kühn
  • Lesedauer: 3 Min.
Nicht nur zwischen verschiedenen Bevölkerungsschichten bestehen teilweise eklatante Einkommensunterschiede – als Überbleibsel der Wiedervereinigung wächst auch das Ost-West-Gefälle weiter.

Vor Kurzem informierte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer ausführlichen Studie über die wachsende Einkommensschere innerhalb der deutschen Bevölkerung. Leider wurde in der medialen Berichterstattung zu wenig auf einen weiteren Riss aufmerksam gemacht, der zwar nur kurz, aber außerordentlich prägnant ebenfalls in der Studie beschrieben wurde: Die bestehende und wachsende Einkommenskluft zwischen west- und ostdeutschen Bürgern.

Das DIW schreibt: »Im Vergleich zur gesamtdeutschen Entwicklung zeigt sich in Ostdeutschland ein stärkerer Anstieg des Anteils der Niedrigeinkommensbezieher seit 2000 von rund 24 auf fast 31 Prozent 2009«. Zum Vergleich – in der Bundesrepublik beträgt der Anteil der Niedrigeinkommensbezieher an der Bevölkerung im Jahr 2009 »nur« 20 Prozent. Ein derartiger Unterschied von mehr als zehn Prozent ist mehr als eine statistische Unschärfe. Dafür sind die höheren Einkommensgruppen in den neuen Bundesländern deutlich unterrepräsentiert: Gerade einmal 9 bis 10 Prozent der Ostdeutschen fallen in diese Kategorie, bundesweit sind es 16,5 Prozent der Bevölkerung.

Ebenfalls nicht leichtfertig sollten die Politiker mit einer anderen Erkenntnis der DIW-Forscher umgehen: »Von 1997 bis 2009 zeigt sich eine stärkere Zunahme der Polarisierung in Ostdeutschland: von 16 Prozent im Osten, im Vergleich zu nur elf Prozent im Westen.« Soziologen warnen vor der Spaltung der Städte in arme und reiche Viertel. In der Bundesrepublik kann derzeit ein für deutsche Verhältnisse neues soziologisches Phänomen beobachtet werden: Ein eindeutiger Riss zwischen großen Landesteilen, analog zu den italienischen Verhältnissen.

Für einen Ökonomen, der es gewohnt ist, mit Fakten und nicht mit Vermutungen oder Erwartungen zu operieren, sind diese Erkenntnisse des DIW durchaus erklärbar: Erwirtschafte Einkommen sind nur realisierbar, wenn genügend hochproduktive Arbeitsplätze vorhanden sind. Sie werden geschaffen nicht durch Autobahnbau und Städteverschönerung, sondern durch neue und damit produktivere Ausrüstungen. Hier aber haperte es in den vergangenen beiden Jahrzehnten in den neuen Bundesländern. Führt man alle Daten für Ausrüstungsinvestitionen der Bundesrepublik von 1991 bis 2007 zusammen, so wurden insgesamt 3,2 Billionen Euro in neue Ausrüstungen investiert, davon lediglich 13,8 Prozent in den fünf neuen Bundesländern, in denen aber 16 Prozent der Bevölkerung leben.

Um die Daten präziser zu interpretieren, sind die genannten Investitionen mit der Zahl der Erwerbspersonen zu relativieren: Je Erwerbsperson wurden im gesamten Zeitraum in den alten Bundesländern 83 000 Euro investiert, in den neuen Bundesländern 59 000 Euro. Nur im kurzen Zeitabschnitt von 1994 bis 1996 erreichte die Summe der Ausrüstungsinvestitionen je Erwerbsperson in den neuen Bundesländern annähernd den entsprechenden Wert des früheren Bundesgebietes. Seitdem hat sich dieser Abstand immer mehr vergrößert. Für den Zeitraum 2001 bis 2007 wurden im Westen der Bundesrepublik 38 000 Euro an Ausrüstungen je Erwerbsperson investiert, in den fünf neuen Bundesländern 23 000 Euro, also mehr als ein Drittel weniger.

Eine aufholende Entwicklung mit deutlich höherer Investitionstätigkeit für neue Arbeitsplätze, wie sie nach dem Kahlschlag an Produktionskapazitäten durch die Treuhandanstalt zu Beginn der 1990er Jahre erforderlich gewesen wäre, hat bisher also nicht stattgefunden. Die Quittung liegt nun vor: Eine zunehmende Verarmung einer großen Region Deutschlands.

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