Duell um die »Konfitüre«

Nach Flugzeugabsturz und Hochwasser: Polen wählt am Sonntag einen neuen Staatspräsidenten / Die Entscheidung fällt wahrscheinlich erst am 4. Juli

  • Julian Bartosz, Wroclaw
  • Lesedauer: 3 Min.
Am Sonntag dürfen etwa 30 Millionen Polinnen und Polen ihren Stimmzettel in die Wahlurne werfen – diesmal, um ein neues Staatsoberhaupt zu küren. Zehn Bewerber stellen sich ihnen zur Wahl, doch alle erwarten ein Duell.
Wachablösung vor dem Warschauer Präsidentenpalais
Wachablösung vor dem Warschauer Präsidentenpalais

Polens Präsident ist laut Verfassung höchster Vertreter seiner mehr als 38 Millionen Landsleute in den internationalen Beziehungen. Auch im Inneren verfügt er über etliche Befugnisse, darunter das Recht, die von Sejm und Senat verabschiedeten Gesetze durch sein Veto zu belegen. Vom Maß seines Einvernehmens mit dem Regierungschef und dessen Ministern hängt es ab, ob das Land weitgehend reibungslos oder nur schwerlich zu regieren ist.

Notwendig wurde der vorgezogene Urnengang, nachdem Amtsinhaber Lech Kaczynski und 95 weitere Insassen der Präsidentenmaschine am 10. April bei deren Absturz nahe Smolensk ums Leben gekommen waren. Seinen Platz wird entweder Zwillingsbruder Jaroslaw Kaczynski oder Sejmmarschall Bronislaw Komorowski einnehmen.

Komorowski, Kandidat der Bürgerplattform (PO), dürfte die Eintracht mit der Regierung seines Parteifreundes Donald Tusk und damit die Allmacht der PO sichern. Sein Widersacher, Chef der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), steht dagegen für ein schwieriges Zusammenspiel mit dem Ministerpräsidenten und dessen Kabinett. Darin steckt das politische Hauptproblem dieser Wahl.

Die üblichen Attribute »rechtsliberal« und »proeuropäisch« (PO) oder »nationalkonservativ« und »populistisch« (PiS) besagen in diesem Zusammenhang wenig. Beide Politiker und ihre Parteien stammen aus dem Post-Solidarnosc-Lager, beide stimmten in der gegen die Arbeitswelt und die Tradition der Volksrepublik Polen gerichteten Gesetzgebung überein. Im Grunde sind PO und PiS unsozial, prokapitalistisch.

Die Polen, die sowohl das Regiment der PiS oder ähnlicher Formationen als auch das ihrer heutigen Konkurrenten bereits durchlebt haben, sind sich dessen durchaus bewusst. Etwa die Hälfte der Stimmberechtigten, so fürchtet man in den Wahlstäben, könnte daher zu Hause bleiben. So geschehen bereits bei der Präsidentenwahl 2005. Die »Gazeta Wyborcza«, auf der Seite Komorowskis, ruft deshalb auf: »Geh zur Urne – das tut nicht weh!« Wenn man von Enttäuschungen wegen gebrochener Wahlversprechen (also von »seelischen Schmerzen») absieht, ist das sogar richtig. Ebenso richtig ist die Darstellung der Alternative, wie sie das Wochenmagazin »Polityka« veranschaulicht: Guckt man frontal aufs Titelblatt, sieht man Komorowski und seine Wahlparole »Eintracht baut auf«, schaut man etwas von der Seite, kommen Kaczynski und sein Spruch »Polen ist das Allerwichtigste« zum Vorschein. Vor Jahren gab es Postkarten in dieser Art: Mal war die junge Dame bekleidet, mal hüllenlos. Jetzt präsentieren sich die Rivalen elegant mit roter Krawatte zum schneeweißen Hemd. Es geht schließlich um die »Konfitüre«: Der Staatspräsident beruft seine Leute in allerlei Ämter – den Währungsrat, die Medienbehörde, das berüchtigte Institut für Nationales Gedenken (IPN), er ernennt Richter, Staatsanwälte, Professoren...

Zwar führt Komorowski in den Umfragen klar, doch wird er das Ziel am Sonntag wohl noch nicht erreichen, so dass Polen zwei weitere Wochen Wahlkampf bevorstehen. Und niemand hat vergessen, dass vor fünf Jahren nicht der führende Donald Tusk, sondern Lech Kaczynski das Rennen in der Stichwahl machte.

Wie das auch klingen mag: Das Flugzeugunglück am 10. April half der PiS, die Kirche auf ihre Seite zu ziehen, wozu überdies die Kommunionszeit, die Fronleichnamsprozessionen, die Feierlichkeiten zur Seligsprechung des 1984 ermordeten Pfarrers Jerzy Popieluszko und zahlreiche bischöfliche Predigten (»Wählt jene, die ein patriotisches Gewissen haben!«) beitrugen. Und zwei Hochwasserwellen im Mai und Anfang Juni brachten der PO-geführten Regierung viel Kritik ein, die bis heute anhält.

Der Zweikampf wurde sogar vor Gericht getragen: Kaczynski warf seinem Rivalen vor, er wolle das Gesundheitswesen privatisieren, worauf ihn Komorowski zum Widerruf verurteilen ließ. Am Kern des Problems, der Finanzierung der medizinischen Betreuung, ging der Streit völlig vorbei. Als in Afghanistan schließlich zwei weitere polnische Soldaten getötet wurden, verstiegen sich beide zu der Behauptung, sie seien schon seit Langem für ein »Ende der Mission«. Alles ehrlich und »wahrheitsgetreu«.

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