Auf einen Tanz mit den Korsettstangen

Dank ihrer Überlegenheit im Mittelfeld deklassiert die deutsche Elf Argentiniens Solokünstler mit 4:0 und trifft nun im Halbfinale auf Spanien

  • Martin Ling, Kapstadt
  • Lesedauer: 4 Min.

Bastian Schweinsteiger ging kommentarlos durch die Mixed Zone. Das konnte sich der zu Recht zum Spieler des Spiels gewählte deutsche Mittelfeldstratege leisten. Schließlich hatte er vor dem Spiel klare Ansagen gemacht und vor allem auf dem Platz Taten sprechen lassen. Dass Deutschland den zweiten Klassiker in Folge in überragender Manier gewann und sich nach dem 4:0 gegen Argentinien ins Halbfinale und zu einem ernsthaften Titelkandidaten emporgespielt hat, war insbesondere ein Verdienst der Überlegenheit im Mittelfeld. Schweinsteiger engte die Kreise von Argentiniens Lionel Messi, der mangels Alternativen vom Stürmer zum Spielmacher mutierte, derart gut ein, so dass sich der Dribbelkünstler immer wieder im Netz der deutschen Defensive verfing.

Ausgehend von dieser Mittelfeldhoheit entwickelte Deutschland sein schon gegen England von aller Welt bewundertes blitzschnelles Konterspiel, das in dieser Perfektion bei dieser Weltmeisterschaft seinesgleichen sucht. Überfallartig schwärmt nahezu die gesamte Mannschaft bei Ballbesitz aus, sodass selbst der Innenverteidiger Arne Friedrich in seinem 77. Länderspiel im Fünfmeterraum des Gegners zu seinem ersten Treffer kam, nachdem Schweinsteiger bei einem Solo gleich mehrere Gauchos wie Korsettstangen ausgetanzt hatte.

Das Spiel war mit dem 3:0 in der 74. Minute endgültig entschieden, Kloses 4:0 in der 88. Minute hatte nur noch statistischen Wert, dafür aber doppelt: Der Bayern-Stürmer zog damit mit Gerd Müller in der ewigen WM-Torjägerliste gleich und liegt mit seinen 14 Treffern nur noch einen hinter dem Brasilianer Ronaldo. Darauf angesprochen, meinte er: »Klar hat man das im Kopf, aber wenn ich mir es aussuchen könnte, würde ich lieber bei 14 Toren stehen bleiben und dafür lieber Weltmeister werden.« Klose betonte auch, dass die deutsche Mannschaft gegen Argentinien wie schon gegen England exakt das umzusetzen vermochte, was sie sich vorgenommen hatte und was ihr von Trainer Joachim Löw vorgegeben wurde.

Löw hatte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vor dem Argentinien-Spiel sein Mantra öffentlich gemacht: »Was mich interessiert: Dass die Mannschaft gelernt hat, das einfache Spiel zu beherrschen. Ballmitnahme, Spiel ohne Ball, spielen und gehen, und natürlich die Raumaufteilung – das waren die vier zentralen Themen, die wir vom ersten Trainingstag auf Sizilien an durchgekaut haben, in Theorie und Praxis.«

Das hat erkennbar Früchte getragen. Man habe gewusst, so Löw bei der Pressekonferenz, dass Argentinien in zwei Mannschaften zerfallen würde, »fünf greifen an und lassen sich ungern in Deckungsarbeit verstricken, fünf verteidigen und tragen wenig fürs Offensivspiel bei«, so der deutsche Nationaltrainer. Dass dadurch Lücken im Gesamtgefüge entstehen, konnte man schon bei den ersten vier Spielen Argentiniens sehen, nur dass bis auf Mexiko in der Anfangsphase keiner der bisherigen Gegner in der Lage war, diese Lücken zu nutzen. Deutschland beherrscht dieses Konterspiel exzellent, die Brasilianer, die es zeitweise auch hervorragend praktizierten, sind schon draußen.

Klose, der gegen Argentinien auch das zwischenzeitliche 2:0 (68.) besorgt hatte, wollte von einer Favoritenrolle freilich nichts wissen. Holland spiele einen guten Ball und der Europameister Spanien, der nun am Mittwoch in Durban Gegner im Halbfinale ist, sei ebenfalls stark einzuschätzen.

Mit Spanien trifft Deutschland auf eine gut organisierte Mannschaft, die im Gegensatz zu Argentinien eine homogene Einheit von Position eins bis elf darstellt. So beeindruckend wie noch bei der EM 2008 traten die Iberer in Südafrika bislang allerdings nicht ganz auf. Und die deutsche Elf anno 2010 ist spielerisch bei weitem besser als 2008. Argentinien musste das leidvoll erfahren. Seit dem 0:4 gegen das Holland Johan Cruyffs 1974 kam die Albiceleste bei einer WM nicht mehr so unter die Räder. An das Clockwork Orange von damals kommt die Löw-Truppe freilich noch nicht heran, sie ist aber auf einem guten Weg.

Das einzige vielleicht, das den derzeitigen Optimismus im Lager der deutschen Elf ein wenig schmälert, ist die Halbfinalsperre von Thomas Müller, dem gegen Argentinien bereits sein vierter WM-Treffer gelang. Wegen seiner zweiten Gelben Karte wird der 20-Jährige nun aber gegen Spanien fehlen. Ein solcher Ausfall wiegt schwer, bekannte auch Bundestrainer Löw: »Thomas Müller hat gezeigt, mit welcher Torgefahr er bei diesem Turnier präsent ist.«

Argentinien: Romero - Otamendi (70. Pastore), Demichelis, Burdisso, Heinze - Rodríguez, Mascherano, Di María (75. Agüero) - Messi, Higuaín, Tévez.

Deutschland: Neuer - Lahm, Mertesacker, Friedrich, Boateng (72. Jansen) - Khedira (77. Kroos), Schweinsteiger - Müller (84. Trochowski), Özil, Podolski - Klose.

Tore: 0:1 Müller (3.), 0:2 Klose (68.), 0:3 Friedrich (74.), 0:4 Klose (89.). Schiedsrichter: Irmatow (Usbekistan). Zuschauer: 64 100.

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