Unterm Rad

Kleine Wunder in Athen

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Stavros sitzt jede Nacht auf seinem Balkon. Er trägt Kopfhörer, die Lautstärke, in der er Rockmusik der 60er Jahre hört, kann man sich nur vorstellen. Früher hat er die Musik auf seiner selbstgebauten Anlage gehört, so, dass regelmäßig die Polizei kam. Einmal hat seine Mutter die gesamte Plattensammlung auf die Straße geworfen. Das war der bislang schrecklichste Tag in Stavros' Leben, zu sehen, wie »Jethro Tull« oder »Deep Purple« unter die Räder vorbeifahrender Autos kamen.

Er selbst ist seitdem auch unter die Räder des Lebens gekommen, was man schon daran erkennt, dass er heute so rücksichtsvoll ist, Kopfhörer zu tragen. Er ist inzwischen deutlich über fünfzig, besitzt einen kleinen Tabakladen in Athen, drei andere Tabakläden sind gleich nebenan. In keinem der Läden wird je irgend etwas gekauft, aber das ist nicht so sehr das Problem von Stavros und der anderen Griechen. Er sitzt mit den drei Ladenbesitzern ganz gern an der Straße und sieht dem Leben zu. Sie haben einen Tisch und Stühle und den immergleichen Gesprächsstoff. Das ist in Ordnung, so kann es von ihm aus immer weitergehen. Aber er schläft schon lange keine Nacht mehr richtig, ob er darum Musik hört, oder ob er nicht schlafen kann wegen der Musik, das weiß er genauso wenig wie der Zuschauer in diesem hinreißend lakonischen Film von Fillipos Tsitos, einem seelischen Roadmovie mit den Mitteln des Minimalismus.

Stavros hat zwar keine Probleme mit seinem gegen jede Gewinnerwartung resistenten Laden – denn er ist in dieser Hinsicht ein echter Grieche. Wer seinen Nationalstolz hat, der braucht keinen Umsatz an der Kasse. Etwas anderes ist wirklich schwer für ihn: Seine Frau hat ihn verlassen, weil sie nicht mit ihm und seiner Mutter zusammen in einem Haus leben konnte. Nun hatte die Mutter einen Schlaganfall, die Welt versinkt um sie herum. Aber was sind schon Namen? Stavros hat sich inzwischen daran gewöhnt, dass sie ihn mit immer neuen anspricht oder in scharfem Ton fragt: »Wer sind Sie, mein Herr?« Das kann ihn nicht aus Fassung bringen. Geduldig zieht er sie an und wieder aus, bringt sie ins Bett, und am Tag sitzt auch sie mit den Männern vor dem Laden. Da sind die Chinesen in der Nachbarschaft, die ein Geschäft eröffnen, stets emsig und viele, man kann sie gar nicht zählen, sehen doch alle gleich aus, finden die vier vor dem Laden. Anders die Albaner, die im Auftrag der Stadtverwaltung ein Denkmal für »Interkulturelle Solidarität« bauen. Die haben viel weniger Energie. Albaner muss man immer im Augen behalten, da sind sich die vier zwischen zwei Bier einig.

Bis jetzt ist eigentlich alles wie immer, irgendwie erträglich, zumindest hat man sich daran gewöhnt, dass nichts in Ordnung ist. Den Stolz, Grieche zu sein, kann einem keine Krise nehmen! Bis einer der Albaner, die das Denkmal bauen, plötzlich bei Stavros' Mutter am Küchentisch sitzt. Jetzt ist Stavros das erste Mal in seinem Leben fassungslos. Er versteht kein Wort – und warum lebt seine bis eben pflegebedürftige Mutter so auf? Dieser Albaner sei ihr verlorener Sohn, erklärt sie, er könne nun auch bei ihnen wohnen. Stavros ist erschüttert: Ein Albaner bei sich zu Hause! Wieso spricht denn seine Mutter fließend Albanisch, wenn sie doch keine Albanierin ist, fragen Stavros nun seine Mitgriechen. Und dann der Verdacht: Dann ist er ja auch kein echter Grieche, sondern eher ein Albaner!

Auf eine wunderbar aberwitzige Weise erzählt »Kleine Wunder in Athen« vom Zerbrechen eines reichlich hybriden nationalen Selbstbildes. Irgend etwas stimmt nicht mit den Griechen, das dämmert nun zumindest auch dem in seinem Griechentum erschütterten Stavros (wie ein vom Leben beschädigter Philosoph: Antonis Kafetzopoulos), oder hätten sie hier sonst Hunde mit dem Namen »Patriot«, die nur Albaner anbellen?

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