Ungeklärte Gegenwart und Geschichte

Zum 60. Jubiläum der »Vertriebenencharta« zeigt Erika Steinbachs BdV sein wahres, revisionistisches Gesicht

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 4 Min.
Vor 60 Jahren verkündeten Vertriebenenverbände die »Charta der Heimatvertrieben«. Zum Jubiläum feiert der Steinbach-Verband sich selbst als Vorreiter von Frieden und Versöhnung – und dreht doch wieder heftig an der Ressentimentspirale. Eine akzeptable Studie zur Nazivergangenheit der BdV-Gründergeneration liegt derweil noch immer nicht vor.

Der Bundestagspräsident war gekommen, der Innen- und auch der Außenminister, der als Vizekanzler gerade die Regierung führt: Wenn es beim »Bund der Vertriebenen« etwas zu feiern gibt, marschiert die höchste Prominenz auf. Obwohl niemand so genau weiß, wie viele Mitglieder der BdV denn nun wirklich hat, ist die Dachorganisation der sogenannten Landsmannschaften noch immer ein Faktor, vor dem die Rechte sich verneigt – selbst derjenige, der eigentlich anderer Meinung ist. Vizekanzler Guido Westerwelle (FDP) etwa, der kurz nach seinem Amtsantritt dafür sorgte, dass BdV-Chefin Erika Steinbach nicht selbst in der geplanten Vertriebenenstiftung mitmischen wird, sagte gestern lieber nichts. Dabei testet Steinbach mit der Ersatznominierung von Arnold Tölg und Hartmut Saenger gerade, wie weit sie den Bogen spannen kann: Tölg glaubt, »die Tschechen« hätten sich schon seit 1848 auf eine Austreibung der Deutschen vorbereitet; die Entschädigung früherer NS-Zwangsarbeiter hält er für ein Unding. Und Saenger findet, der Zweite Weltkrieg habe »viele Väter« gehabt.

Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat es gestern nicht für nötig befunden, diese skandalösen Nominierungen zu kommentieren. Immerhin verwahrte sich der höchste Vertreter des deutschen Parlamentarismus gegen den von Steinbach erneut geforderten »nationalen Gedenktag für die Opfer von Vertreibung«, den der Bundesrat 2003 beschlossen, der Bundestag aber noch nicht ausgerufen hat. Sinngemäß sagte Lammert, es gebe doch schon genug Gedenktage.

In ihrer Rede ging auch Steinbach mit keinem Wort auf die breite, nationale wie internationale Kritik an ihren Hobby-Welterklärern ein. 60 Jahre nach der »Charta«, in der sich Vertriebenenfunktionäre, von denen viele aus der NSDAP und aus der antidemokratischen Szene der »Volkstumspolitik« der Zwischenkriegszeit stammten, zum »Verzicht« auf Rache und Gewalt verpflichteten, dreht die BdV-Frontfrau an der Ressentimentspirale. Die Zurückhaltung, die sie sich während Rot-Grün und Schwarz-Rot auferlegt hatte, ist dahin.

Auch die für den Herbst angekündigte Untersuchung des Münchner »Instituts für Zeitgeschichte« (IfZ) zur Naziverstrickung der BdV-Gründergeneration muss sie kaum fürchten. Schon die Vorstudie von Manfred Kittel war dermaßen apologetisch ausgefallen, dass sie vom Innenministerium, vom IfZ und notgedrungen auch vom BdV zurückgewiesen wurde. Kittel soll trotzdem Gründungsdirektor der Dokumentationsstätte »Flucht, Vertreibung, Versöhnung« werden. Und Steinbach kennt schon jetzt das wichtigste Forschungsergebnis: »Vom Nationalsozialismus geprägtes oder extremistisches Gedankengut hat niemals Eingang in unsere Verbandspolitik gefunden.«

Nun ist es eine Definitionsfrage, welches »Gedankengut« als nazistisch zu bezeichnen ist – und welches vielleicht nur als »völkisch«. Der Historiker Martin Broszat, selbst langjähriger IfZ-Chef, hat schon vor über 40 Jahren darauf hingewiesen, dass der Nationalsozialismus gerade kein abgegrenztes Gedankengebäude vorgab, sondern auf einem bewusst vagen »Ideenbrei« schwamm, der zeitgenössisch viele Anknüpfungspunkte bot – und danach die Möglichkeit, Differenzen herauszustreichen und sich zu exkulpieren. Es wird sich zeigen, ob sich die IfZ-Historiker noch an Broszat erinnern.

Eindeutig im braunen Dunstkreis bewegen sich bis heute zum BdV gehörende Organisationen wie der »Witikobund« in der Sudeten-Landmannschaft. 2008 hat selbst die Bundesregierung »rechtsextreme Bestrebungen« bei den »Witikonen« festgestellt – die bis 1967 generell als rechtsextrem galten. Ein kraftvolles Einschreiten Steinbachs wurde nicht bekannt.

Energisch verbat sich Steinbach in Stuttgart dagegen Kritik an der »Charta der Heimatvertriebenen«. Die 1950 von den BdV-Vorläufern »Vereinigte ostdeutsche Landsmannschaften« und »Zentralverband der vertriebenen Deutschen« formulierte Erklärung hält die BdV-Chefin für einen »beeindruckenden Akt der Selbstüberwindung für den Weg des Friedens und Miteinander«. Einzig dem Publizisten Ralph Giordano räumt sie ein Recht auf eine Meinung ein: »Sein Blickwinkel ist aus den (...) Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus gespeist, den er nur knapp überlebt hat. Seine Argumente respektiere ich, aber ich teile sie nicht.«

Giordano hatte die »Charta« im »Kölner Stadtanzeiger« ein »Musterbeispiel deutscher Verdrängungskunst« genannt: »Massenvertreibungen und Zwangsverpflanzungen (...) unter deutscher Herrschaft? Ein weißgeblutetes Polen, das tschechische Lidice, Russlands verbrannte Erde, gar Auschwitz? Aus dem Gedächtnis gewischt, wie die Jubelorgien beim Einmarsch deutscher Truppen ins Sudetenland.« Während für die deutschen Flüchtlinge und Zwangsaussiedler der emotionale Begriff »Vertriebene« reserviert sei, nenne man die von den Nazis Vertriebenen bis heute neutral »Emigranten«.

Steinbach aber bleibt dabei: »Der 5. August 1950 ist für Deutschland und Europa von unschätzbarer Bedeutung. Hätten sich die Heimatvertriebenen an diesem Tag für einen anderen Weg entschieden, für einen Weg der Gewalt, so sähe Deutschland heute anders aus.« Dem ist kaum zu widersprechen: Andernfalls hätten nämlich die Alliierten, die den »Vertriebenen« nach den Erfahrungen mit der destabilisierenden deutschen »Minderheitenpolitik« im Ostmitteleuropa der Zwischenkriegszeit skeptisch gegenüberstanden, die Organisierung unterbunden.

Wahrscheinlich wären wir ohne den BdV – der nie mehr als ein Viertel der Zwangsaussiedler und Flüchtlinge vertreten haben dürfte – weiter bei der Aussöhnung mit den Nachbarn. Und ohne das unangenehme Rechtsklima der Steinbach-Truppen würden sich auch mehr junge Deutsche mit der faszinierenden wie blutigen Geschichte des multikulturellen alten Ostens befassen. Das diesbezügliche Tabu, über das Steinbach so gerne klagt, ist hausgemacht.

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