Dialektik und moderne Physik

Über einen unveröffentlichten Aufsatz von Nobelpreisträger Max Born

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.

Ohne Kenntnis der Relativitäts- und Quantentheorie war Lenin bereits 1908 zu der Einschätzung gelangt, dass die moderne Physik in den Geburtswehen liege und dabei sei, den dialektischen Materialismus zu gebären. Allerdings verlaufe diese Entbindung schmerzhaft, ergänzte er, so dass den Schöpfern physikalischer Theorien zumeist verborgen bleibe, dass sie sich als Naturforscher spontan und damit unbewusst der materialistisch-dialektischen Methode bedienten.

Auch späterhin versuchten marxistische Philosophen auf diese Weise zu erklären, warum die Nobelpreise im Fach Physik größtenteils an Forscher gingen, die wie Max Planck, Albert Einstein, Werner Heisenberg oder Max Born vom dialektischen Materialismus wenig angetan waren, um es vorsichtig auszudrücken. Namentlich Born reagierte auf solche Versuche verärgert und schrieb 1958 in einem Brief an den Ostberliner Wissenschaftshistoriker Friedrich Herneck: »Ich halte die in der DDR jetzt beliebte Methode, große Männer wie Einstein und Planck zur Bestätigung der eigenen Anschauungen heranzuziehen, für sehr unangebracht.« Energisch fuhr Born fort: »Nun, Einstein und Planck können sich nicht mehr zur Wehr setzen. Ich bin aber noch lebendig und will – in aller Freundschaft – darlegen, warum ich die orthodoxe Lehre des Marxismus für die Physik für untauglich halte.« Mehr als 60 Briefe richtete Born an Herneck, in denen er mehrfach beklagte, dass die Marxisten den statistischen Charakter der Quantenmechanik nicht verstünden. Und dass ihr Glaube an die absolute Wahrheit ihrer Grundsätze jede sachliche Diskussion unmöglich mache.

Wie unlängst bekannt geworden ist, hatte Born bereits 1955 mit seinem ehemaligen Schüler Léon Rosenfeld über Physik und Dialektik gestritten. Rosenfeld, der damals in Manchester lehrte, war ebenfalls Marxist und zudem ein enger Vertrauter von Niels Bohr, in dessen auf dem Welle-Teilchen-Dualismus fußenden Komplementaritätsprinzip er eine Bestätigung des dialektischen Materialismus erblickte. Born widersprach, wie dies ironischerweise auch einige Sowjetphilosophen taten, wenngleich aus anderen Motiven. Ihnen ging es vor allem darum, die im Osten bisweilen als »idealistisch« verketzerte Quantenmechanik durch eine »deterministische Theorie der Mikrowelt« zu ersetzen. Die Sache wird noch verzwickter dadurch, dass auch Einstein ein solches Konzept bevorzugt hätte. Dennoch wurde er nicht minder von übereifrigen Marxisten attackiert – wegen seiner »philosophischen Verirrungen« in der Relativitätstheorie, und manche sprachen gar vom »reaktionären Einsteinianertum in der Physik«.

In dieser Atmosphäre verfasste Born eine bissige Kritik an Rosenfeld, die jetzt erstmals in den »Notes & Records of the Royal Society« (Bd. 64, S. 155) veröffentlicht wurde. Schon ein flüchtiger Blick darauf genügt, um zu begreifen, warum Born an der Dialektik so wenig Gefallen fand. Denn er informierte sich darüber in Stalins Schrift »Über dialektischen und historischen Materialismus«, die bei ihm einen denkbar schlechten Eindruck hinterließ. Und die ihn letztlich daran hinderte, das heuristische Potenzial der Dialektik auch nur ansatzweise zu erkennen. So ging Born fälschlich davon aus, dass nach der »hegelianisch-marxistischen Lehre« die Entwicklung physikalischer Theorien stets der Formel: »These + Antithese = Synthese« gehorche. Da man aber weder den Übergang von Ptolemäus zu Kopernikus noch den von Aristoteles zu Galilei sinnvoll als Synthese beschreiben könne, schlussfolgerte er, sei die Dialektik im Grunde »schlechte Metaphysik«.

Seine Absage an den dialektischen Materialismus hat Born nie veröffentlicht. Vermutlich wollte er nicht in den eskalierenden Kalten Krieg verwickelt werden oder diesen damit gar anheizen, schreiben die Wissenschaftshistoriker Olival Freire und Christoph Lehner in einem Kommentar zu dem Aufsatz von Born. Ansonsten jedoch lehnte dieser das politische System im Osten entschieden ab. Das teilte er nicht nur Rosenfeld mit, sondern später auch seinem Ostberliner Briefpartner Friedrich Herneck, der sich dennoch fast rührend bemühte, Born von den Vorzügen des realen Sozialismus zu überzeugen.

Dabei war Herneck selbst in der DDR zeitweilig als »Revisionist« verdächtigt worden und hatte »wegen Verherrlichung von Mach, Ostwald und Einstein«(!) eine SED-Parteistrafe erhalten. Überdies wollte man ihm die Lehrerlaubnis an der Humboldt-Universität entziehen. Doch der zuständige Staatssekretär weigerte sich, das Dokument zu unterzeichnen. Wie Herneck später gern erzählte, traf er während jener Zeit in einem Westberliner Hotel den Chemie-Nobelpreisträger Otto Hahn, der ihn mit den Worten ansprach: »Grüß Gott, Herr Herneck, raucht der Scheiterhaufen schon?« Darauf Herneck: »Herr Professor Hahn, er raucht nicht mehr.«

Von alldem hatte vermutlich auch Born erfahren, der bis zu seinem Tod 1970 mit Herneck einen respektvollen Briefdialog führte. Nur einmal stand dieser auf der Kippe. Nämlich als Herneck eine abfällige Bemerkung über die Engländer machte. Immerhin war Born auf der Flucht vor den Nazis 1934 nach Großbritannien emigriert. »Ich fühle mich diesem Volk geistesverwandt, weil es weitherzig ist und Zwang verabscheut«, schrieb er nach längerer Pause an Herneck und fragte spitz: »Wo wäre Ihr ›großer Marx‹, wenn er nicht in England Zuflucht gefunden hätte?«

Vor allem in seinen letzten Schriften zeichnete Born ein düsteres Bild von der Zukunft der Menschheit, zumal er weder im Westen noch im Osten Anzeichen für eine Politik der Vernunft zu erkennen vermochte. »Meine Abneigung gegen die Supermächte USA und UdSSR ist gleich intensiv – hier Vietnam, da Tschechoslowakei«, gestand er Herneck und fügte hinzu: »Lügen ist überhaupt das Kennzeichen unserer Zeit.«

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