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Schon wieder Systemdenken?

Das deutsche Beispiel von Vergessen und Erinnern

  • Harald Kretzschmar
  • Lesedauer: 6 Min.

Es ist eine eigentümlich paradoxe Dialektik um das Erinnern: Das Gedächtnis wird strapaziert, und gleichzeitig selektiert man. Für einen bestimmten Zweck verwendbare Bruchstücke werden geradezu als Ikonen kostbarer Erlebnisse hochstilisiert. Arabesken romantisierender Heroisierung gedeihen ihnen zum Schmuck. Unangenehme Wahrheiten dagegen pflegt man gern zu verdrängen. Fehler, Irrtümer, Versäumnisse? Wer das Leben kennt, weiß – ohne das geht es nicht ab. Statt abzuwägen, verschweigt man doch lieber. Oder beschönigt oder rechtfertigt sie gar. Das Ganze nennt man dann auf gut deutsch Vergangenheitsbewältigung.

Mächtig gewaltig.

Auf diese Weise etabliert sich ein Kult des gezielten Erinnerns, der umso seltsamere Blüten treibt, je mehr davon in der offiziell verordneten Geschichtsschreibung quasi für die Ewigkeit zementiert wird. Je oberflächlicher in der Gegenwart gelebt und je chaotischer agiert wird, desto gründlicher wollen wir ganz offensichtlich unsere Vergangenheit ordnen. Je vagere Vorstellungen wir davon haben, wie wir unsere Zukunft gestalten können, desto genauer wollen wir über frühere Ereignisse Bescheid wissen. Und sie umgehend in diesem oder jenen Interesse werten. Vermeintlich vollauf zuverlässiges Wissen und Werten ist anschließend systematisch und flächendeckend zu verbreiten. Inzwischen haben weite Zweige der historischen Wissenschaft die Gewohnheit angenommen, jede Menge Details zu erkunden, zu sortieren und schließlich als Extrakt eine Lehrmeinung daraus zu filtern.

Unsere Lust, in Erinnerungen zu kramen, hat Hochkonjunktur. Kein Wunder. Wir werden immer älter. Der Rückblick wird Lebenselexier, Denken immanent zu Gedenken.

Komisch, aber bezeichnend: Unsere Vergesslichkeit steht uns dabei im Wege. Wir verfluchen sie oft genug, und wollen nicht wahrhaben, wie heilsam sie Wunden schließt und Ärgernisse in den Hintergrund treten lässt. Das Vergessen hat schlechte Karten. Schon allein, irgendein bewusstes oder unbewusstes Vergessen zuzugeben, fällt schwer. Der Vergessliche ist immer der Blamierte. Dabei gilt im Großen haargenau das, was sich stets im Kleinen bewährt hat: Zum Beispiel erinnere ich mich an das eine, meine Frau an das andere vom einst gemeinsam Erlebten. Mich hat das beeindruckt oder gar getroffen, sie etwas ganz anderes. Aus der kollektiven Erinnerung erst entsteht das Puzzle, welches ein wenig Anspruch erheben kann, eine Realität zu reflektieren, die am Verblassen und schließlich am Verschwinden ist.

Mit zuviel Rechthaberei beim Erinnern macht man sich leicht lächerlich. Dennoch nimmt der aus einem angemaßten Recht abgeleitete Alleinvertretungsanspruch auf eine bestimmte Deutung mitunter geradezu gespenstische Ausmaße an. Ich kann mich über alle Lebensalter hinweg an genau gezielte pauschale Abwertungen erinnern. In meiner Kindheit wurden mir jüdische oder slawische oder überhaupt fremde Mentalitäten als besonders verabscheuenswert hingestellt. In meiner Jugend und danach wurden stets Partei ergreifende Verhaltensweisen erwartet. Die Gespenster von Idealismus und Kapitalismus lauerten an jeder Ecke. Es drohte Konvergenz und Rollback. Und nun im Alter soll ich eine Geschichtsdeutung auf Schmalspur akzeptieren, die mein Erinnern nicht gelten lässt? Mit umgekehrten Vorzeichen das eine Systemdenken durch das andere ersetzen? Das ist doch grob fahrlässig.

Gerade las ich wieder: »Wir brauchen Regeln für die Bewältigung der Vergangenheit«. Wir Deutschen sind mal wieder die Größten, weil wir dauernd Beispiele geben, wie man dunkle Flecken in der eigenen Geschichte aufarbeitet. Wir gründen für den Zweck eine Behörde. Wir lassen uns das was kosten. Schon allein darin liegt der Wert. Den Gründer und langjährigen Chef der Behörde hätten wir neulich um ein Haar zum Bundespräsidenten gewählt. Einen überaus ehrenwerten, hochintelligenten Mann. Da Leuten, die noch nie sichtbar Zivilcourage bewiesen haben, in Deutschland gern Charisma zugeschrieben wird, wurde er als charismatisch bezeichnet. Satte Selbstgewissheit von erst Recht beanspruchenden, dann Recht sprechenden Mitbürgern macht allemal Eindruck. Mich als ewigen Zweifler bringt sie immer in Verlegenheit. Wenn selbsternannte Anwälte von Opfern immer neu Vergewaltigte und Vertriebene, missliebig Gewesene und missbraucht Gewordene finden, wird mir schwindlig. Wer nie Opfer wurde, keine kennt oder benennt, kann nicht mitreden. Die große Opfer-Abrechnung findet ohne ihn statt.

Oft möchte man fragen: Haben Sie es nicht eine Nummer kleiner? Im täglichen Leben, oft abschätzig als »Alltag« abqualifiziert, sieht vieles anders aus. Da lebt deutsche Teilung munter fort. Ganz schlicht und elementar. Wenn zum Beispiel in Berlin am Alex nach wie vor Ost-Devotionalien und am Zoo West-Souvenirs verkauft werden. Kein Wunder – Teilung hat eben geteilte persönliche Erlebnisse gezeitigt. Die einen haben damals einige Wochen schwer unter der Luftbrücke gelitten, die anderen jahrzehntelang gewiss wohl nur leicht unter dem Gefälle der Währungen. Beide werden in diesem Punkt nie zu gemeinsamer Meinung kommen. Oder vor der Teilung die gemeinsam meist gar nicht so sehr erlittene, sondern gemeinsam vollzogene Nazidiktatur. Nach wie vor ein Tabu, auszusprechen, wie harmonisch beim Zerfall in zwei Staaten die Erbteilung vollzogen wurde. Im Westen kamen der kleine Kriegsgewinn und die großen Kriegsgewinnler nebst erheblichen Ideologieresten zur Geltung. Im Osten waren die kleinen PGs nebst Bonbon am Revers und strammer Disziplin und die großen parteimäßigen Massenaufmärsche wohlgelitten.

Ich weiß, es ist so schwer, einmal proportional und dann wieder umgekehrt proportional zu erinnern. Dabei – hat man es nur einmal laut ausgesprochen, dann, erst dann kann man sich den Luxus des Vergessens leisten. Ich bin fest überzeugt: dann erst können, ja sollten wir endlich vergessen. Im Kleinen dort die schäbigen Schikanen und tödlichen Bedrohungen an einer Grenze, die Weltsysteme trennte. Im Kleinen da das leidige Schnauzehalten und blamable NachdemMundereden in Parteiversammlungen und Fernsehinterviews. Im Großen dort die elenden Schlagworte von den zwei Diktaturen und der Einmaligkeit der Bespitzelung. Und im Großen diese duckmäuserische Wehleidigkeit, die einem echten Selbstbewusstsein immer im Wege ist.

An bestimmte Details wird so oft erinnert, dass sie hochgradig abgenutzt sind. Vergessen Sie es endlich! – möchte man da permanent rufen. Gelegenheit zu Mutproben beim Äußern von eigener Meinung gibt es genug. Wer 1989 als Bürgerrechtler(in) Mut und Fantasie und Freiheitswillen bewies – warum muss der oder die heute ununterbrochen so systemkonform reden und agieren, wie es die meisten tun? Wenn sie nicht überhaupt zum Schweigen gekommen oder gebracht sind. Es gäbe doch manches zu hinterfragen, was in der Eile der Wiedervereinigung unter den Tisch gefallen ist. Muss man gerade die Erinnerung daran vergessen? Kunstwerke und Künstler, Forschungsergebnisse und Forscher, die damals total vergessen wurden, sind durchaus nicht alle wieder erinnert.

Oft regiert der pure Widersinn. Die wunderbar romantisch geprägte Universität Greifswald hat sich den Skandal geleistet, das Andenken an die bedeutende jüdische Künstlerin Lea Grundig durch den Rauswurf der von ihr getätigten Stiftung zu beschmutzen. Als ob McCarthy die Köpfe verwirrt hatte, entdeckte man ein Fehlverhalten wegen kommunistischer Gesinnung. Da hatte die glühende Stalinistin Frida Kahlo in der jetzt mit sensationellem Publikumserfolg zu Ende gegangenen Berliner Ausstellung ja Glück, dass die Erinnerung an sie als faszinierende Künstlerin nicht von solch parteilichen Linienrichtern zensiert wurde.

All dieses Erinnern ist erfreulicherweise nunmehr eine öffentlich erörterbare Angelegenheit. Die Zeit der Geheimdienstdossiers und der Spitzelakten ist – dem Vernehmen nach – vorbei. Umso verwunderlicher ist es, wenn die Denkweise von Hobbykriminologen trotzdem weitgehend die Geschichtsdebatten bestimmt. Die Heerscharen von Hilfsaufklärern im Staatsauftrag sind kaltgestellt. Und dennoch ist das Wort Aufklärung aus den militärischen und geheimdienstlichen Sphären noch nicht zurück dahin, wo es einmal eine Kategorie der Philosophie war. Schade drum. Wissen ist Macht, sagt man. Bescheidwissen über jemanden verleiht Macht über ihn. Wissen ist aber noch lange nicht verstehen. Erinnertes Wissen mit klarem Verstand zu erfassen und zu verarbeiten ist schon wieder eine Kunst. Ich würde raten: Vergessen wir das nicht!

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