- Kultur
- »Weltbühne«
100 Seiten Thomas Bernhard für 48 Cent
Leser*innenservice: Thomas Blum rechnet für Sie aus, ob sich der Kauf der neuen »Weltbühne« im Vergleich zu einem leckeren Cocktail lohnt
Man sollte immer schauen, was genau man bekommt für sein Geld. Das ist eine alte schwäbische Weisheit. Bestellt man etwa in einer durchschnittlichen Berliner Bar für zwölf oder 13 Euro einen »Negroni«, erhält man in 90 Prozent aller Fälle ein großes Glas, in dem drei riesenhafte Eiswürfel in einer kleinen Pfütze aus wässriger hellroter Flüssigkeit liegen, die einen problematischen Geruch verströmt. Was der Wirt da gelangweilt im Ruckzuck-Verfahren zusammengepanscht hat, hat in aller Regel mit einem »Negroni« nur wenig zu tun: eine Orangenschale, ein Fingerhut voll billiger Gin, ein Spritzer Ekel-Wermut aus dem Discounter und ein wenig von dem öligen übelriechenden roten Zeug, das schmeckt, als werde es in unterirdischen Labors produziert, indem verflüssigte Salmiakpastillen mit »Rosenthaler Kadarka« gemischt werden – fertig ist der Lack.
Kauft man dagegen die für den Drink erforderlichen Zutaten selbst in einem Spirituosengeschäft – einen Carpano Antica Formula, einen vernünftigen Gin und eine Literflasche Campari – und lässt ihn sich zuhause von seinen Kindern mixen (die Zubereitung ist denkbar einfach, und die Kleinen sind beschäftigt und lernen dabei sogar noch etwas fürs Leben), hat man ungefähr 80 Euro ausgegeben, doch die »Negroni«-Versorgung ist vorerst sichergestellt: 20 bis 23 großzügig gemixte und qualitativ nicht zu beanstandende Cocktails wird man daraus schon herstellen können, vorausgesetzt, Ihr Zögling verwendet genug Sorgfalt auf die Anfertigung des Getränks und arbeitet nicht hektisch und schlampig. Sie bezahlen dann nur noch umgerechnet 3,70 oder 3,80 Euro pro Glas und nicht das Vierfache für eine ungenießbare Brühe, an der außer der Farbe nichts an einen »Negroni« erinnert.
Genauso sollte es auch mit der Lektüre sein, der Sie sich auf Ihrer Terrasse oder Ihrem Balkon oder Ihrem Garten widmen, während Sie an Ihrem »Homemade Negroni« nippen: gehobenes Lesevergnügen zu einem angemessenen Preis. Ein Konvolut sauber und gewissenhaft aneinandergereihter Buchstaben, das für vergleichsweise schmales Geld zu bekommen ist.
Nehmen wir einmal an, Sie entscheiden sich dafür, die erste Ausgabe der in Holger Friedrichs Berliner Verlag neu aufgelegten Zeitschrift »Weltbühne« zu erwerben, von der neulich in den Medien viel die Rede war. Im »Spiegel« hieß es: »Wenn diese ›Weltbühne‹ eine Bühne der Welt sein soll, dann kann damit nur die sehr kleine und muffige Welt der Macher dieses Heftchens gemeint sein.« Die darin enthaltenen Texte seien »läppisch« und »von irritierender Belanglosigkeit«. (All das gilt natürlich genauso Wort für Wort für den »Spiegel« selbst, aber wir wollen nicht kleinlich sein, haha.)
Das kleinformatige Druckerzeugnis hat 32 Seiten und kostet elf Euro. Das sind 34,375 Cent pro Druckseite. Der Sparkommissar in mir rechnet bereits: Elf Seiten aus der neuen »Weltbühne« entsprächen also zirka dem Wert von einem »Homemade Negroni«. Tatsächlich reicht mir ein kurzer verstohlener Blick auf das Inhaltsverzeichnis der neuen »Weltbühne«, um mich innerhalb eines Sekundenbruchteils für drei »Negronis« statt für den Kauf der Zeitschrift zu entscheiden.
Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute
Ein traditionsreiches Versandhaus hat ein anderes Lektüreangebot, mit dem – im Hinblick auf das, was der Kunde für die entrichtete Kaufsumme erhält – Holger Friedrichs »Weltbühne« nicht konkurrieren kann: das Gesamtwerk des österreichischen Schriftstellers Thomas Bernhard, der in seinen Büchern zahlreiche Themen verhandelte, die auch heute noch aktuell sind, zum Beispiel die Heimat (»Provinzhölle«), das Arbeitsleben (»Gelderwerbshölle«) oder der Effekt von Schul- und Universitätsbildung (»Geistesmord«, »Vernichtungsanstalten«). Die Werkausgabe besteht aus 22 formschönen Taschenbüchern, hat 10 300 Seiten und kostet derzeit 49,95 Euro. Das sind 0,48 Cent pro Druckseite. Weniger als ein halber Cent für eine Seite Weltliteratur! Dafür bekommen Sie von Holger Friedrich gerade mal 20 läppische Buchstaben und ein paar irritierend belanglose Leerzeichen! Umgerechnet in »Negronis« bedeutet das: Für die Geldsumme, die ein von Ihnen selbst (oder Ihren Kindern) zubereiteter »Negroni« Sie kostet, bekommen Sie sage und schreibe satte 787 Seiten (!) Thomas-Bernhard-Text, also anderthalb bis zwei Romane.
Sämtliche 22 Bände entsprechen etwa dem Wert von 13 hausgemachten »Negronis«. Anders gesagt: Wenn Sie einen schlappen Hunderter springen lassen, können Sie zu jedem Buch Ihrer Werkausgabe, das Sie lesen, einen recht großzügig bemessenen halben »Negroni« trinken. Nach abgeschlossener Lektüre mögen alle Gläser ausgetrunken sein, aber die Bücher haben Sie dann ja immer noch!
Das Beste ist: Die Bände sind verstaut in einem »zusammenklappbaren Schuber mit Tragegriff«, sodass Sie an keinem Ort, den Sie aufsuchen – sei es das Fitnessstudio, das Münchner Oktoberfest oder der Gipfel des Großglockners –, auf Ihre Werkausgabe verzichten müssen. Seien wir ehrlich. Da muss der qualitätsbewusste Sparfuchs nicht lange überlegen: Kaufe ich für 34 Cent eine (in Zahlen: 1) Druckseite läppischen Text von irritierender Belanglosigkeit, produziert von fragwürdigen Resterampe-Autoren? Oder kaufe ich zum selben Preis 70 (!) Seiten Qualitätstext eines international geschätzten, von Literaturwissenschaftlern (mir) geprüften Dichters? Na, da dürfte die Entscheidung doch leicht fallen.
Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft nicht das Schulfach »Genuss« eingeführt werden sollte: Da könnten Ihre Kinder nicht nur essenzielle Cocktailrezepte lernen, sondern auch die Fähigkeit, muffige und läppische Texte von modernen und indispensablen zu unterscheiden. Sicher ist jedenfalls: Immer schauen, was genau man für sein Geld bekommt.
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