Pasta-Kurs bei Artusis »Töchtern«

In Forlimpopoli in der Emilia Romagna feiert die Kunst des Genießens ganzjährig fröhlich Feste

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 7 Min.
Dem Genießer schlägt keine Stunde.
Dem Genießer schlägt keine Stunde.

»Sei nicht so zimperlich, schlag zu. Noch mehr, kräftiger! Schau her.« Romana greift sich meinen Mehl-Eier-Pamps, knetet ihn mit flinken Fingern, versetzt ihm von allen Seiten gehörig Hiebe – und im Nu hat er sich in einen goldgelben elastischen Pastateig verwandelt. »Siehst du, so musst du das machen«, sagt sie. Der zweite Versuch gelingt besser, doch nie hätte ich gedacht, dass so ein bisschen Nudelteig einem den Schweiß auf die Stirn treiben kann. Und das ist erst der Anfang. Nun wird ausgerollt. Schön locker aus dem Handgelenk. Romana macht's vor. Gewissermaßen im Handumdrehen verwandelt sich der Klops in ein hauchdünnes Etwas. Ich brauch dafür die dreifache Zeit und danach ein paar Lockerungsübungen für die schmerzenden Gelenke. Der Rest verlangt Fingerfertigkeit und trägt in schönster Vollendung Namen wie Bavettine, Capellini, Farfalloni, Orecchiette, Pappardelle, Taglierini oder Garganelle. Aus Romanas Mund klingt das wie eine einzige Schlemmerorgie.

Ist es auch, denn bei Romana, Nadja und den anderen 140 »Mariette« in Forlimpopoli, einer Kleinstadt in der Emilia Romagna auf halben Wege zwischen Bologna und Rimini, is(s)t man kulinarisch direkt im siebten Himmel. Die »Assoziatione delle Mariette« ist eine Vereinigung von Hausfrauen (und auch einigen Männern), die ihre Familienrezepte weitergeben. In ihrer Kochschule, der einzigen in Italien, die sich ausschließlich der Hausmannskost verschrieben hat, lernt man nicht nur Pasta wie von Mama zu machen, sondern bekommt einen tiefen Einblick in die italienische Küche, die ebenso raffiniert wie einfach ist. Alt und Jung kommen hierher, um beispielsweise zu lernen, dass eine gute Pasta aus Eiern und Mehl und sonst nichts besteht. Hobbyköche genauso wie gestandene Profis, die wissen wollen, warum es bei Mama noch immer am besten schmeckt.

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Niemand kann ihnen das besser erklären, als die »Mariette«, denn sie sind gewissermaßen die Töchter von Pellegrino Artusi (1820 bis 1911), dem berühmtesten Sohn von Forlimpopoli. Er hat 1891 mit seinem Kochbuch »La scienza in cucina e l'arte di mangiar bene« (Von der Wissenschaft des Kochens und der Kunst des Genießens) nicht nur erstmals eine Sammlung von Rezepten aus allen Regionen Italiens herausgegeben, sondern damit auch geschafft, worum sich die Politiker drei Jahrzehnte nach Gründung des italienischen Einheitsstaates im Jahr 1861 immer noch vergeblich bemühten: dass sich die Bürger mit ihrem Staat identifizierten. Pflegte bis dahin jede Region ihre Dialekte, die untereinander kaum verstanden wurden, ersetzte Artusi sie in seinem Kochbuch durch eine einheitliche, für jeden verständliche Sprache, die wiederum dazu beitrug, ein Nationalgefühl zu schaffen. Vereinte die erste Auflage 475 Rezepte, erweiterte sich die Sammlung bis zu seinem Tode im Jahr 1911, als die 15. Ausgabe erschien, auf 790.

Dabei war der Begründer der italienischen Nationalkultur überhaupt kein Koch, sondern Seidenhändler und Literaturkritiker. Vor allem aber war Artusi Feinschmecker. Bei seinen Reisen hielt er nicht nur Ausschau nach besten Stoffen, sondern war auch immer auf der Suche nach unbekannten Gaumenfreuden. Zuhause ließ er sie sich von Marietta, seiner Köchin, nachkochen. Versehen mit seinen Kommentaren und Anekdoten entstand im Laufe der Jahre eine kulinarische Landkarte, die – etwas abgewandelt – bis heute das Standardwerk aller italienischen Köche und Hausfrauen ist. Zog früher eine Frau ins Ausland, schenkten ihr die Verwandten die Genuss-Bibel zum Abschied als wirksames Mittel gegen Heimweh. Wenn sie schon in der Ferne leben musste, dann sollte die Heimat wenigstens auf dem Teller lebendig bleiben.

Artusis Werk wurde in sechs Sprachen – Englisch, Deutsch, Französisch, Holländisch, Spanisch und Portugiesisch – übersetzt, Russisch und Japanisch sind in Arbeit.

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Niemand kommt in Forlimpopoli an Artusi vorbei. Nicht nur in den Töpfen der Mamas und Nonas hält man sein Erbe hoch. Kulinarischer und kultureller Kulminationspunkt des Ortes ist die nach ihm benannte Casa Artusi, das vor fünf Jahren eröffnete Zentrum für gastronomische Kultur. Hier vereinen sich unterm Dach eines früheren Klosters auf 2800 Quadratmetern ein Restaurant, ein Weinkeller mit den besten Tropfen aus der Emilia Romagna, die Kochschule der »Mariette«, die ihren Namen Artusis Köchin verdankt, ein kleines Museum, Konferenzräume und eine öffentliche Bibliothek. Auch Artusis umfangreiche Büchersammlung hat hier ihren Platz gefunden und Ausgaben seines berühmten Werkes aus aller Herren Länder.

In Forlimpopoli gibt es außerdem noch eine Gastronomiefachschule, die selbstverständlich auch Artusis Namen trägt.

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Seit 1997 verwandelt sich die Stadt alljährlich ab dem vorletzten Wochenende im Juni für neun Tage in ein einziges großes Freiluftrestaurant. Die von den Vereinen der Stadt organisierte »Festa Artusiana« zu Ehren ihres berühmten Sohnes ist ein Festival der Lebensfreude und eine Leistungsschau des guten Geschmacks. Wenn sich allabendlich die Straßen und Plätze in eine gigantische Schlemmermeile verwandeln, können die Besucher im besten Sinne Tradition und Geschichte der Region auf der Zunge spüren.

Rund 10 000 Feinschmecker aus aller Welt strömen in der Zeit nach Forlimpopoli, das sich während des kulinarischen Ausnahmezustands offiziell in Artusopoli verwandelt. Auch viele Straßen und Plätze werden umbenannt, aus der Piazza Garibaldi wird beispielsweise die Piazza Artusi. Sie ist das Zentrum des Festes. Überall steigen verführerische Düfte aus Töpfen und Pfannen empor, man kann zuschauen, wie Hausfrauen mit kräftigen Armen den Teig für die Piadina, das traditionelle Fladenbrot der Emilia Romagna, kneten, der für die Region berühmte Sangiovese fließt in Strömen.

Auch die französische Partnerstadt Villeneuve-Loubet, Geburtsort des Erfinders der Haute Cuisine, August Escoffier, ist mit regionalen Köstlichkeiten vertreten. Seit zehn Jahren besteht diese Städtepartnerschaft, Grund genug, in diesem Jahr das internationale Symposium, mit dem die »Festa Artusiana« stets eröffnet wird, diesem Jubiläum zu widmen. Und so konnte man auf einem Plakat beide Kochgötter – Artusi und Escoffier – harmonisch beieinander sehen. Artusi indes war Zeit seines Lebens ein scharfer Kritiker der von Escoffier maßgeblich mitgeprägten und bis heute geltenden international geschätzten Küchensprache. In seinem Küchenklassiker ersetzte der Italiener deshalb aus »Gründen der Würde die aufgeblasene« Sprache der Franzosen durch die »schöne und harmonische Landessprache«. Zu seinem Rezept 38, »Zuppa sul sugo di carne« (Suppe aus Fleischbrühe), schrieb Artusi: »Um sich wichtig zu tun, benutzen einige Köche die Fachsprache unserer uns wenig wohl gesinnten Nachbarn, sie benutzen Namen, die mächtig klingen, aber nichts aussagen. Ginge es nach ihnen, hätte ich diese Suppe ›zuppa mitonée‹ nennen müssen.«

Höhepunkt der »Festa Artusiana« ist die Verleihung zweier Preise: Der »Premio Marietta« für den traditionsbewusstesten Hobbykoch und der »Premio Artusi«. Er kann sowohl an einen internationalen Spitzenkoch wie auch an eine Persönlichkeit vergeben werden, die sich im Kampf gegen Hunger oder andere Ungerechtigkeiten verdient macht. In diesem Jahr fiel die Wahl auf den italienischen Priester Don Luigi Ciotti, den Gründer der Vereinigung »Libera Terra«, die sich dem Kampf gegen die Mafia verschrieben hat und der Enteignung von Grundbesitz verurteilter Mafiosis, um sie landwirtschaftlichen Kooperativen zu übergeben.

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Auch die »Mariette« sind mit ihrer Kochkunst beim Fest dabei. Das Geld, was sie hier einnehmen, geben sie, genau wie das für die Kochkurse, weiter an Hilfsbedürftige. Zum Beispiel an ihr zweijähriges Patenkind Rahabot aus Eritrea. »Schau, wie hübsch sie ist«, zeigt mir Romana ein Foto. Und dabei strahlt ihr Gesicht, als wär es ihre eigene Enkeltochter.

  • Infos: APT Servizi Emilia-Romagna (Fremdenverkehrsamt), Piazzale Federico Fellini, 3, I – 47900 Rimini, E-Mail: touristinfo@aptservizi.com, www.original-italienisch.de
  • Weitere Infos: Italienische Zentrale für Tourismus ENIT, Barckhausstrasse 10, 60325 Frankfurt am Main, Tel.: (069) 23 74 34, E-Mail: frankfurt@enit.it, www.enit-italia.de
  • Kochkurse mit den »Mariette« unter www.casartusi.it
  • Infos zur »Festa Artusiana« unter www.pellegrinoartusi.it
  • Anreise: Direktflüge von vielen Flughäfen in ganz Deutschland nach Rimini und Bologna. Seit diesem Jahr fliegt Wind Jet zwei Mal pro Woche (Do und So) von Berlin-Tegel nach Forli, www.flywindjet.de
  • Das Buch »Von der Wissenschaft des Kochens und der Kunst des Genießens« wurde letztmalig 2005 in Deutschland vom Kosmos-Verlag Stuttgart aufgelegt und ist derzeit nur antiquarisch, z. B. im Internet zu beziehen
  • Literaturempfehlung: Italienische Adriaküste, Michael Müller Verlag, 384 S., 142 Farbfotos, 32 Karten, 5 Wandervorschläge, 2. Auflage 2010, ISBN 978-3-89953-548-8, 19,99 €
Neun Tage im Juni herrscht im Forlimpopoli kulinarischer Ausnahmezustand.
Neun Tage im Juni herrscht im Forlimpopoli kulinarischer Ausnahmezustand.
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