Ein Hoffnungsschimmer

Wer keine Wohnung hat, dem gewährt das Gesetz eine Einzelfallhilfe. Sozialarbeiter regeln dann das Leben

Verkauft ein Obdachloser Straßenmagazine, verdient er damit ungefähr soviel wie ein Flaschensammler. Solche Selbsthilfe ist besser als nichts – doch Wohnungslose, für die an diesem Sonnabend ein bundesweiter Aktionstag stattfindet, brauchen andere Hilfe als ein paar Euro und ein Bett für eine Nacht. Einigen bietet das betreute Einzelwohnen eine Möglichkeit, aus dem Teufelskreis auszubrechen.
Ein Hoffnungsschimmer

Es ist eine Frage der Perspektive: Wer ganz unten angelangt ist, dem erscheinen die Schwierigkeiten umso größer, das Leben wieder in den Griff zu bekommen. Für viele ist die Wohnungssuche schon mit einer negativen Schufa-Auskunft und der fehlenden Bescheinigung über die Mietschuldenfreiheit aussichtslos. Petra Siegberg kennt solche Probleme: »Zur Hilflosigkeit führt nie nur ein einzelner unglücklicher Umstand, es ist eine ganze Kette.« Sie arbeitet bei der ambulanten Wohnungslosenhilfe der Caritas in Berlin und unterstützt Menschen, die den Boden unter den Füßen verloren haben.

Zwei Jahre Geduld für die Rückkehr

»Man braucht Geduld, um ein Leben wieder auf die Beine zu stellen«, meint Siegberg. Und die darf sich die Sozialarbeiterin leisten. Bis zu zwei Jahre kann das betreute Einzelwohnen dauern. Solange übernehmen die Sozialämter die Kosten. Grundlage dafür ist das Sozialgesetzbuch, in dem es heißt, dass Menschen in einer besonderen Notlage Unterstützung erhalten, wenn sie sich nicht mehr selber helfen können.

Enrico Damm* ist einer von Siegbergs Klienten. Er war drogenabhängig, nahm alles, was er kriegen konnte, und nur der Zufall ließ ihn abstinent werden: Als er wieder einmal sternhagelvoll war, griff eine Polizeistreife ihn auf. Wenn der heute 27-Jährige an die Szene vor viereinhalb Jahren denkt, dann findet er, dass er eine jämmerliche Figur abgegeben hat. Dieser Tag war der Wendepunkt, denn damals begriff er, dass er sich gänzlich ändern musste.

Die Nacht verbrachte er in der Ausnüchterungszelle. Als er wieder draußen war, kümmerte er sich um eine Therapie. Dafür verließ er sein Dorf in Mecklenburg und ging nach Berlin, ins Haus Oppenheim am Wannsee. Nur Kaffee und Zigaretten waren erlaubt, das war schon liberal. Nachdem ein Entzug bereits gescheitert war, hielt er diesmal durch. »Sonst wäre ich jetzt gar nicht mehr hier. Ich hatte mir meinen Grabstein schon gemeißelt« – er lacht kurz auf und zählt die Stationen seiner Drogenkarriere auf: mit 12 Alkohol, mit kiffte er, mit 18 kam Kokain hinzu, außerdem schnüffelte er Lösungsmittel. Über zehn Jahren hinweg war er so gut wie nie nüchtern. Das hatte fatale Folgen: Die roten Blutkörperchen nahmen Überhand, seine Leber war kaputt und viele Hirnzellen starben ab.

Enrico Damm wusste, dass er fahrlässig mit seiner Gesundheit umging, doch der Drang, die Realität nicht zu spüren, war stärker als die Vernunft. Schon seine Kindheit war alles andere als glücklich: Als er ein Jahr alt war, gab ihn seine Mutter zur Adoption frei. Er kam erst in ein Säuglingsheim, später in eine Pflegefamilie, ging auf die Sonderschule und absolvierte eine Malerlehre – als Pflichtübung. Schleichend begannen die Drogen einen immer größeren Einfluss auf ihn auszuüben; er wollte sich mit seinem Schicksal nicht quälen.

Auf seinem langen Weg zurück in die Gegenwart begleitet ihn Petra Siegberg. Die Sozialarbeiterin sorgt dafür, dass er im Alltag einen Halt findet. Ein gerichtlicher Betreuer kümmert sich um die finanziellen Angelegenheiten. Gemeinsam passen sie auf, dass Enrico Damm das Leben nicht über den Kopf wächst. Als er sich auf diese Hilfe einließ, kam er an eine ganz kurze Leine: Er wurde unmündig.

Jeden Morgen fährt Enrico Damm ins Büro einer Behinderteneinrichtung, wo er leichte Arbeiten in der Verwaltung erledigt. Als er diese berufliche Reha antreten konnte, lag ein weiter Weg hinter ihm; nun befindet er sich in einem Übergangsstadium zurück ins Leben. In der Freizeit spielt Volleyball in der Drogenliga, geht zur Selbsthilfegruppe und hat angefangen zu kochen. »Kopfkino« nennt er dieses Programm, das ihm Halt geben soll. Noch hat er das neue Leben nicht verinnerlicht, noch muss er jeden Tag aufs Neue der Sucht widerstehen.

Es ist schön, erwartet zu werden

Nicht alle Klienten von Petra Siegburg sind Abhängige oder kommen geradewegs aus der Verwahrlosung. Auf Miriam Kanu* trifft das nicht zu. Sie ist lebensfroh und hat zwei Kinder, die sie liebevoll umsorgt. Die Nigerianerin befindet sich in einer Lebenskrise. Sie wurde von ihrem Ehemann schon länger schikaniert; im November 2009 eskalierte der Streit: »Er nahm mir die Papiere weg.« Ohne Dokumente, die bezeugen, dass sie eine Aufenthaltsgenehmigung hat und dass die dreijährige Emily* und Säugling Antony* ihre Kinder sind, hätte sie als Afrikanerin in Deutschland keine Daseinsberechtigung. »Da habe ich die Polizei gerufen«, erzählt die 32-Jährige. Die riet ihr, mit den Kindern ins Frauenhaus zu gehen. Es war eine Flucht, Hals über Kopf.

Währenddessen wechselte ihr Mann die Schlösser in der Wohnung aus. Da stand sie also, ein Kind auf dem Arm, das andere an der Hand, und blickte nach fast zehn Jahren in Deutschland ins Nichts. Ein Vierteljahr blieb sie im Exil für notleidende Frauen und bekam dort den Kontakt zur ambulanten Wohnungslosenhilfe. Petra Siegberg half ihr, eine Wohnung zu finden und einen Kita-Platz für Emily. Alleine hätte sie sich aus dieser Lage nicht befreien können. Zumal sie auf Deutsch nicht flüssig lesen kann und sich mit den deutschen Ämtern nicht auskennt.

Einmal in der Woche kommt sie ins Caritas-Büro. Dann beredet sie mit Petra Siegberg, was zu tun ist. Die Sozialarbeiterin stellt anschließend die Anträge. In aller Ruhe ordnet Miriam Kanu ihr Leben neu. Nur die negativen Erlebnisse kann die Sozialarbeiterin ihr nicht abnehmen.

Der Streit mit ihrem Ehemann fing an, als sie ein zweites Mal schwanger war. »Er wollte kein zweites Kind; der Junge war ihm egal«, erzählt sie verbittert. »Er hätte es gerne gesehen, wenn ich abgeschoben worden wäre. Dann könnte er das Sorgerecht für Emily an sich reißen.« Das konnte sie abwehren. Dennoch ist sie mit den Nerven und ihrer Kraft am Ende. Wenn ihr Sohn in der Kita ist, will sie wieder als Servicekraft im Hotel arbeiten. Das habe der Chef ihr zugesagt, bevor sie Antony gebar.

Miriam Kanu und Enrico Damm sind zwei Gestrauchelte, denen Petra Siegberg weiterhelfen kann. Irgendwann können sie ihr Leben wieder alleine regeln. Aber zur Sozialarbeiterin kommen auch Hilfesuchende, für die eine Einzelfallhilfe nicht das Richtige ist. »Wer manisch-depressiv ist, braucht medizinische Hilfe«, erklärt sie.

Bei ihren Klienten in der ambulanten Wohnungslosenhilfe legt sie Wert auf das Einverständnis und ein freundschaftliches Verhältnis: Mit Miriam Kanu trinkt sie eine Tasse Tee; Enrico Damm nimmt sie zum Abschied in die Arme. Anderthalb Jahre kennen sie sich bereits, solange kümmert sie sich um seine Geschicke, und nun bereitet sie ihn darauf vor, dass Ende September die Hilfe ausläuft. »Das wird ein Experiment«, meint er und lächelt unsicher, freut sich aber auch auf den nächsten Schritt in Richtung Selbstständigkeit. Nur seinen gerichtlichen Betreuer behält er noch vier Jahre.

Nach dem Termin bei Petra Siegberg eilt Enrico Damm zu einem Treffen in seiner evangelischen Gemeinde. Der Glaube an Gott ist für ihn eine Konstante im Leben geworden. Es sei schön, in der Gemeinde erwartet zu werden, sagt er. Vielleicht fühlte er sich noch nie so gut wie jetzt. Längst hat er wieder angefangen zu träumen. Zwar ist er noch erwerbsunfähig, und sein Gedächtnis ist langsam; aber wenn er sich weiter stabilisiert hat, will er zum Bürokaufmann umschulen.

* Die Namen wurden von der Redaktion geändert.

Zwei Jahre lang hat Petra Siegberg (unten) ihren Klienten Enrico Damm (oben) auf dem Weg zurück ins Leben betreut. Bald muss er alleine klar kommen.
Zwei Jahre lang hat Petra Siegberg (unten) ihren Klienten Enrico Damm (oben) auf dem Weg zurück ins Leben betreut. Bald muss er alleine klar kommen.
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