»Du – nach Tirana?«

Joachim Seyppel: Drei Reisegeschichten

  • Lesedauer: 8 Min.
Joachim Seyppel
Joachim Seyppel

Joachim Seyppel, bekannt durch über 30 Bücher, ist in seinem Leben viel gereist, aber wenn er jetzt darüber schreibt, geschieht das aus der Erinnerung. Entsprechend lakonisch sind die Texte, die er in seine Schreibmaschine tippt. In kurzen Abständen schickt er Manuskripte – per Hand korrigiert, mit hineingeklebten Änderungen – eine dicke Mappe habe ich schon. Voller Originale. Und immer wieder musste ich den Autor vertrösten: Irgendwann gibt es noch eine Seite für ihn. Jetzt aber, seit einiger Zeit, kein Brief; am Telefon meldet sich niemand. Da fiel es mir ein, nach einer Telefonnummer aus dem gleichen Haus in Hamburg zu suchen. Freundliche Auskunft einer Bewohnerin: Der alte Herr – vor Kurzem habe sie ihn gesehen, schleppt sich fünf Treppen hoch, hört das Telefon wohl nicht. Aber er will ja allein zurechtkommen. Eigensinnig sei er ...
Ja das war er schon, als er ein DDR-Schriftsteller war ...
Am 3. November wird Joachim Seyppel 91 Jahre alt.
Irmtraud Gutschke

Die Entdeckung des Kopfes

Nacht, Sturm, kaum Lichter, Gepäck schwer vom Regen, so stolpert man auf den Quai. Eine magere Gestalt im nassen Jackett, Hände in gebeulten Hosentaschen, fragt: »Du – nach Tirana?« Durchs Tor vom Hafengitter, Massen von Schatten, bettelnde Kinder mit Krätze, ein schrottreifer Mercedes-Benz und im dritten Gang durch Schlaglöcher, Slums, Unrat. Der Taxifahrer grinst. »Zehn Marka!« Hundert? Denke ich. Die Straße ist kaum zu erkennen. »Hundert Marka!« Der Kerl ist verrückt, zehn Mark sind vereinbart. Da macht er Anstalten, einen Fremden, wie mich, aus dem Auto zu werfen, und hält an. Ich entscheide mich zu Härte, drohe ihm mit der Faust und rufe: »Die gottverdammten Banditen!« Verdutzt schaut der Kerl mich an und kariolt die dreißig Kilometer bis zur Hauptstadt und zum Hotel Dajti. Als ich ihm noch zehn Mark Trinkgeld gebe, schlägt er mir, wie ein Kumpel, auf die Schulter.

Das Hotel ist leer, und auch in der Gegend des Bazars finde ich niemanden, der Auskunft geben könnte. Doch die »Empfangsdame« ist bereit, etwas über ihr Land zu erzählen: »In der Zeit«, begann sie und lächelte listig, »als wir ›be-setzt‹ waren, ließ drüben der Herrscher eine Karawane ausrüsten mit dem Auftrag, an Männer zu verschenken, was ›Fez‹ genannt wurde, also eine rote Wollmütze mit Quaste. Die Karawane erreichte das erste Land jenseits der Grenze. Dort trug keiner der Männer einen Fez, um das Haupt zu bedecken, weswegen sich der Karawanenführer eine grüne Brille aufsetzte, um nicht vor Scham zu erblinden. Die Karawane kehrte zurück, um dem Herrscher davon zu berichten. Daraufhin wurde der Karawanenführer des Hochverrats angeklagt, zum Tode verurteilt und, mit dem Fez auf dem Kopf, enthauptet. Doch nach und nach legte man im Landes selber den Fez ab und verkaufte die letzten Exemplare an Sammler, Museen und Hochschulen, wo sie noch heute von unserer Geschichte künden, und an Läden für Souvenirs.«

»Wie, auch«, warf ich ein, »an Madame Tussauds berühmtes Wachsfigurenkabinett in London?« Sie versuchte zu lächeln und fuhr fort: »Aber überhaupt, meine ich, kümmern wir uns nicht genug um Bedeutung und Schutz des Kopfes. Ich dagegen trage heute eine Perücke, denn wer würde sich ohne Kopfbedeckung gern sehen lassen wollen, wie eine Skalpierte?«

Ich nickte, fragte mich, hatte sie recht, und bedankte mich, bat beim Empfangschef um die Rechnung, doch er sagte mir, die Rechnung sei beglichen. Und von wem? Er lächelte. Er selber hätte dies getan, denn ich hätte doch, ohne viel zu fragen, der Geschichte vom Fez gelauscht, im Gegensatz zu anderen Gästen. Nun, ich würde das Hotel Dajti nicht vergessen und trat die Rückreise an. Der Taxifahrer, den ich schon kannte, verlangte diesmal »Hundert Marka«, und ich gab ihm zehn, wofür er sich nicht bedankte.

Dann bestieg ich am Quai die Fähre. Da es wieder regnete, fürchtete ich, mich zu erkälten, und setzte mir auf, was ich am Quai im Laden für Souvenirs gekauft hatte: einen alten Fez.

Die Wüstenheimat

Von Casablanca aus hatte ich nach zweieinhalb Stunden die Westsahara überflogen und Nouakchott erreicht. Seit meiner letzten Reise hierher in die Hauptstadt von Mauretanien hatte ich mir immer wieder Gedanken gemacht zu der Frage, wie man Meerwasser billig und einfach genug entsalzen könne, um die Bewässerung der Wüste möglich zu machen. Die Passkontrolle am Flughafen nun ist alles andere als ermutigend. Wo ich denn übernachten werde? Im Motel natürlich. Und in welchem? Der Beamte schlägt das Parkhotel vor. Dann eine umständliche Devisenerklärung, vierseitig! Ich gebe Peseten, Dollar und Franc an. Doch schon beim Zoll einige Bettler. Dann sehe ich mich nach dem Wechselschalter um – geschlossen! Er wird erst um dreiundzwanzig Uhr wieder geöffnet – in zwei Stunden!

Also fahre ich ohne Landeswährung in die Stadt. Sofort nimmt mich ein Schlepper in Empfang. Auf dem dunklen Vorplatz steige ich in einen schrottreifen Chevrolet, und wir brausen in Richtung »Centre Ville«, aber am Parkhotel vorbei und sind in wenigen Minuten in der Wüste. Lautstark protestiere ich, doch der Fahrer verspricht mir ein preiswertes Hotel, am Atlantik, wo ich wechseln könne. Im Hotel zahle ich mehrere tausend Ouguiya für das Zimmer, ein Ehepaar aus Paris meint, diese Summe entspreche etwa dreißig Dollar – in diesem armen Land! Ouguiya, erklärt mir das Ehepaar, bezeichnet übrigens eine alte ägyptische Gewichtseinheit, türkisch »Okka«. Der Tag war heiß, die Nacht ist kühl, und ich laufe durch die Dünen, die Sterne leuchten so stark, dass die Augen schmerzen, und der Atlantik grollt.

Vor dem Hotel, am nächsten Morgen: elegante Limousinen, ein Brautpaar mit Anhang steigt aus und wird von den Gästen mit Reis und Blumen begrüßt. An die hundert Männer und Frauen im Saal, teils in westlicher Abendkleidung, teils in der Djellabah. Besonders beeindruckend sind die edlen Frauengesichter, »maurische« Gesichter, in denen Arabien, Spanien und sephardische Juden verschmolzen scheinen. Die Tische bersten schier unter der Last von Früchten, Fleisch und Gebäck, aber auch unter Getränken, wie Whisky. Im Islam? Nun, dies ist eben eine Hochzeit der Reichen in einem armen Land.

Die Nacht ist bitterkalt gewesen, die Heizung hat nicht funktioniert, und jetzt in der Hitze funktionierte die Klimaanlage nicht. Moskitonetz eingepackt, Malariatablette geschluckt und per Taxi »umgezogen« in die Stadt. Um das Parkhotel lungern kleine Jungen und dürre, bärtige Greise. Nun werde ich die Strecke von Nouakchott nach Dakar in Senegal abfahren, Tausende von Meilen. Als ich im Sammel- oder Buschtaxi das Schild mit dem diagonal durchgetrichenen »Nouakchott« (»Windiger Ort«) passiert habe, setzt von Nordosten her der Sandsturm ein.

An den Pistenseiten ein wenig dünner Maquis. Und der Autoverkehr versiegt sofort. Der Fahrer dreht das Fenster hoch. Anstelle eines Burnus zog ich mir, um mich gegen den Sand zu schützen, den Trenchcoat über den Kopf, und durch ein Knopfloch im Trenchcoat beobachtete ich die Piste. Weiße, weitgespannte Nomadenzelte, um sie herum Dromedare. Dann eine Karawane von siebzig Tieren, welch ein Wunder! Braune und hellgelbe Fohlen darunter, ihre flauschige Wolle spielte ins Weißliche hinüber. Allmählich gingen die Farben der Felle, das Fahle des Zwielichts, der Sand in der Luft ineinander über, Sandwolken verhüllten die Sonne, eine durch Luftspiegelung verursachte Täuschung, eine »Fata Morgana«.

Immer wieder mussten wir halten, der Gendarmerieposten, der Viehherden, der Wanderdünen wegen. Und als wir Dakar endlich erreichten, fiel mir ein, dass die hier über hundert Jahre veranstaltete »Rallye Paris-Dakar« auf Grund der vielen Unglücksfälle als »Sport« aufgegeben worden ist. Dann fragte ich mich, wie zu Anfang der Fahrt, ob wir Meerwasser überhaupt entsalzen könnten, um die Bewässerung der Wüste erfolgreich durchzuführen, oder ob wir dabei nicht auch die Wüstenheimat unsrer Fohlen, unsrer Dromedarfohlen vernichten würden.

Hamlets Grab in Dänemark

Ein Hauch von Freundlichkeit weht uns entgegen auf der Landzunge von Jütland, zwischen Nord- und Ostsee. Wir sind auf der Suche nach der Grabstelle des durch Saxo historisch belegten Hamlet. Saxo, genannt »Grammaticus«, der »Sprachgelehrte«, schuf um 1200 in der nach ihm benannten Chronik die Frühgeschichte seines Landes, nutzte dazu den reichen nordischen Sagenschatz.

Auf einer Fähre setzen wir über den Randers Fjord, unweit Viby. Hier erscheint die Zeitung »Jyllands-Posten«, die wir für Information benutzt haben. Herrlich der Flug von Fischadlern und Rohrweihen überm Fjord! Wir kommen dann nach Randers, Amtshauptstadt von Ostjütland, deren mittelalterliches Stadtbild mit Fachwerkhäusern weitgehend erhalten ist. Im »Touristenbureau« Tørvebrygg 12 werden wir mit Informationsmaterial versorgt. Von Randers aus über Grenaavej erreichen wir nahe Assentoft eine Straße, wo wir unser Auto parken. Wenige Meter weiter liegt Ammelhedevej, rechts; links das Grab, am Rand des Dorfes. Eine Anhöhe, rings Wiesen, Heide und Kornfelder, steinzeitliche Steilhänge, rötlich brauner eisenhaltiger Sandstein, und weiter Blick ins Land zu Schilfrohr und wenig Wald. Mäusebussarde, Pferdebremsen und Bienen – die, so die Chronik, in einer alten »Brünne« hausten. Der daraus zubereitete Met, ein weinartiges Getränk aus gegorenem Honig, soll oft einen üblen Beigeschmack gehabt haben.

Einige Stufen hoch, und man sieht den zwei Meter hohen Feldstein, den 1933 die »Tourist Association of Randers« aufgestellt hat. Die Inschrift, übersetzt, lautet: »Amled, der Größte, seit altersher der Geschickteste, handelte wie ein Narr bis zur Stunde der Rache, im Thing gewählt von den Jütländern, hoch gestiegen, ruht er auf Ammelhede«.

Das Werk des Saxo Grammaticus wurde 1514 in Paris gedruckt. Der »Hamlet«-Stoff gelangte 1570 nach England. Hier wurde das Thema schon vor Shakespeare mehrmals dramatisch behandelt. Shakespeares »Hamlet« entstand 1600/01. Eine englische Wandergruppe spielte ein Stück dieses Titels 1626 in Dresden. Goethe vertiefte sich 1797 in Saxo Grammaticus, da er eine »Amled«-Ballade geplant hatte, die nicht zur Ausführung gelangte. Als Gymnasiast sah ich Gustav Gründgens als Hamlet im Großen Haus der Staatstheater am Gendarmenmarkt Berlin, nach dem Krieg Laurence Olivier im englischen Hamlet-Film und in den 70er Jahren im Taganka Theater Moskau »Hamlet« unter der Regie von Juri Ljubimow. Alles so Gedanken auf der Rückfahrt ...

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