Polen entdeckt »Armutsenklaven«

»Gazeta Wyborcza« sieht unlösbare Probleme

  • Julian Bartosz, Wroclaw
  • Lesedauer: 3 Min.
Die auf dem polnischen Pressemarkt tonangebende bürgerliche »Gazeta Wyborcza«, bisher ein unerschütterliches Bollwerk zur Verteidigung neoliberaler Reformen, zugleich aber sanfte Kritikerin verschiedener Schönheitsfehler des zwischen Oder und Bug herrschenden Kapitalismus, machte neulich eine Entdeckung.
Auch Blumenhandel macht nicht reich.
Auch Blumenhandel macht nicht reich.

Gedrängt durch die unüberhörbaren »demagogischen« Forderungen der nach der Wende »Zurückgebliebenen«, deren Interessen zu vertreten sich die national-konservative Oppositionspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) anmaßt, stellte die »Gazeta Wyborcza« tatsächlich fest: Es gibt Armut im Lande! Ja, sogar Not und Elend.

Das Blatt belegt diese Entdeckung durch ein Gespräch mit der Soziologin Wielislawa Warzywoda-Kruszynska von der Universität Lodz. Zwar konzentrieren sich die Gesprächspartner auf die dortige »Armutsenklave«, doch wird die Betrachtung auf die großen Industriestädte allgemein, vornehmlich im oberschlesischen Kohlenpott, ausgeweitet.

Die Wissenschaftlerin hatte das Armutsproblem bereits vor zehn Jahren untersucht. Und sie findet, dass die Marginalisierung von Millionen Menschen fortschreitet. Die in allgemeinen Kennziffern ausgedrückte Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft sei auf die Betroffenen nicht übertragbar: Sie lebten in ihrem eigenen Rhythmus. Skrupellos wird in manchen Kreisen behauptet, sie seien selbst an ihrem Schicksal schuld. Für die Wirtschaft seien sie nicht nur überflüssig, sondern als »Müll der Gesellschaft« störten sie sogar, indem sie unlösbare Probleme schaffen.

Flüchten könnten sie allenfalls aus einer »Armutsenklave« in eine andere. Geheiratet werde meistens im gleichen Milieu. Das Elend werde vererbt, die Kinder schließen ihre Bildung meistens mit Ende der Grundschule ab. Im besten Fall absolvieren sie das Gymnasium »gleich um die Ecke«, also das mit niedrigem Niveau. Jedes fünfte polnische Kind wächst in Armut auf, jeder zweite Arme ist ein Kind. Etwa 20 Prozent der Kinder haben kein eigenes Bett, jedes Vierte hat keinen »Schreibtisch«. Auch daraus ergebe sich Stress, der sowohl die psychische Entwicklung hemmt als auch für die allgemeine Gesundheit schädlich ist.

Sozialhilfe gibt es für Familien, in denen das Prokopfeinkommen die Grenze von 351 Zloty (kaum 90 Euro) nicht übersteigt. Bei einem Mindestlohn von etwa 700 Zloty sind auch Familien mit nur einem Verdiener betroffen. Davon auch nur dürftig das Leben zu fristen sei kaum möglich, betont die Soziologin. Manche Familien lebten in verkommenen Mietshäusern, in denen es weder Strom noch Wasser noch Toiletten gebe.

Da in der Schule kein Sexualkunde-Unterricht erteilt wird, nehme die Zahl junger Mütter ständig zu. Sie lebten in der Familie unter schwierigsten Verhältnissen, scheuten aber den Besuch auf dem Sozialamt, weil sie fürchten, dass ihnen das Kind wegen der ärmlichen Umgebung weggenommen werden könnte. Die Zahl der Großmütter, die dank ihrer Beschäftigungsjahre zu Zeiten der Volksrepublik und ihrer daraus resultierenden Rente noch konkrete Hilfe leisten können, werde immer geringer. An ihrer Stelle gewähren etliche berüchtigte Wucherinstitute gerne Anleihen bis zu 500 Zloty, auf die erbarmungslose 70 Prozent Zinsen zu zahlen sind. Um den Winter zu überleben braucht man schließlich Heizmaterial.

Frau Warzywoda-Kruszynska hat aber auch Gutes zu vermelden: Einiges, was nach 1989/90 rasch beseitigt wurde, soll wieder funktionieren. Die Soziologin lobt die Regierung unter Donald Tusk für das Vorhaben, mehr Geld für kommunale Kinderkrippen und Kindergärten und sogar für vorsorgende Gesundheitsbetreuung in den Schulen auszugeben. Gut sei auch, dass Polen nicht unter der Last bettelnder Straßenkinder zu leiden habe.

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