Tu was! Oder tu nichts!

»Hamlet« am Thalia Theater Hamburg. Regie: Luk Perceval

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

An diesem »Hamlet« stimmt, im landläufigen Sinne, nichts. Der Titelheld war ja noch nie einfach, hier ist er zwiefach. Ophelia gibt’s viermal. Ihr Vater Polonius ist eine knarrig-keifende Hexe im Rollstuhl. Ophelias großer Bruder Laertes ist groß durch Stelzen. Der Königsbote ist ein Kind. Dem Theater wurde jeglicher Anschein ausgetrieben, hier könnte – wenn auch gedichtetes – Leben widergespiegelt werden.

Dem Theater wurde auch das Drama ausgetrieben. Die Inszenierung von Luk Perceval am Hamburger Thalia Theater ist kein Stück, ist ein Traumfetzen, eine dunkle Messe. Es gibt wenig zu sehen, mitzufühlen, es herrscht Monotonie, aber den ziehenden, mitunter hochgetriebenen, dann ins Finstere stürzenden Ein-Klang anzunehmen, das ist am Ende: ein (niederdrückender!) Gewinn.

Die hintere Wand der Thalia-Bühne ist himmelhoch mit dunklen Kostümen verhängt. Als solle der gesamte Fundus von Verkleidungen präsentiert werden, unter denen Hamlets wundes Herz je schlug. Als sei von Bühnenbildnerin Annette Kurz eine gigantische Kaue mit Jacken installiert worden, unzählige Umhüllungen für die Tieffahrt ins Dramen-Bergwerk. Die hier ausfällt.

Was im wahren Sinn den Ton angibt, ist Musik. Vor der Bühne bedient Jens Thomas Klavier und Gitarre, und seine Stimme: Singsang, Schreien, ein Laute-Jazz der spirituell pochenden, fast rauschhaften Versenkungen und Aufputschungen. Es geht hier nicht darum, Handlung wahrzunehmen, die Geschichte Hamlets: dessen Auftrag, den Vatermörder, der nun Mann seiner Mutter ist, zu rächen; nur knapp alles hingeworfen: sein Leiden am Wissen und Wollen, das lange nicht zur Tat und dann kurz und schnell zum Tod wird. Wahnsinn, Waffen, Wein als Gift ... fast nichts davon. Die Schauspieler formen keine Gestalten, sie sind Bruchstücke einer beklemmenden Konfession – die ihren gesteigerten Ausdruck findet in einer unvergesslichen, nervend intensiven Schluss-Szene. Ja, zwei Stunden Theater für eine Schluss-Szene!

Deren Beginn liegt – am Anfang. Der vollstleibige Josef Ostendorf, Knödel rundum, bis in die unverwechselbare Stimme, er sitzt, mit Krone auf dem Kopf – und Krone im Schoß. Er ist, erstaunlich und widersinnig anmutend, Hamlet. Das dicke Kind. Und die Wortfolge jedes Satzes kippt er zunächst in einen völlig falschen Rhythmus. Mit der Mutter, der Mördergattin, reden heißt für ihn: zwischen alle Silben Widerstandsnester legen. Plötzlich lebt der Schoß des Dicken: unter der Krone im Schoß noch ein Kopf. Aus Hamlet schlüpft Hamlet. Ich und Ich. Und Ich ist immer ein anderer. Shakespeares Tragödie als Selbst-Gespräch. Ostendorf: das Leben, wie es so dahingeht, gelassener wird – der junge Jörg Pohl dagegen als das innerliche Weiterbrennen des Zorns, des Sehnens, des Unverträglichbleibens mit der Welt. Der alte Hamlet fährt dem jungen übers Maul, hält ihm den Frage- und Klagemund zu. Wenn Pohl aus der Haut fährt, also dem dicken Ostendorf aus dem Umhang springt, dann ist er nackt: So kommt man zur Welt. Also: zu Schaden, zu kurz, zu Nichts.

Nichts ist wirklich, was stattfindet; aber wirklich ist doch, was Spuren hinterlässt!, und die Spur, welche Perceval hinterlässt, ist ein dämonisches, gespenstisches Empfinden fürs stickig Stehende der Welt, in der du, Partikelchen Mensch, alle Lust und Leidenschaft in die Kraft stecken mögest, das Nichtlösbare auszuhalten, ja: zu genießen. Und nichts ist schließlich lösbar, nicht der Konflikt mit dem Tod, nicht der mit der Wahrheit, nicht jener mit der Liebe, nicht der mit dem Hass, nicht der Konflikt mit der Hoffnung, nicht der mit der Vernunft und nicht der mit der Gerechtigkeit – und der Konflikt, der dich dauernd mit dir selber verstrickt, schon gar nicht.

Die Schluss-Szene also. Ostendorf nimmt den jungen Hamlet wieder in seinen Mantel. Stumm. Während das jungandere Ich schreit, minutenlang, bis zum Zerreißen der Stimme. »Lieb oder lieb nicht, geh oder geh nicht, iss oder iss nicht ...« Unzählige Aufforderungen zur Tat werden ins Publikum gehämmert – mit jeweiligem Gegenteil. Der ewige Ausgleich der Dinge als unbremsbarer Schrei. Mach was!, aber was du auch machst, es ist egal. Du kannst nichts tun, aber du kannst auch nicht nichts tun. Tu!, und zwar immer das, was du nicht lassen kannst – obwohl du's auch lassen könntest. Irrsinn Existenz. Jede Konsequenz schneidet dich von anderen Möglichkeiten ab, jede freie Willenstat nimmt dir andere Freiheiten. Sag Ja oder sag Nein; arbeite oder arbeite nicht, rauch oder rauch nicht ... Dich nicht entscheiden zu können, also der zerrende Moment zwischen dem Ja und dem Nein, dem Dies oder Das: Warum eigentlich ist er so schwer aushaltbar, warum zählt das Unentschiedensein nicht auch als Lebens-Wert ...

Wenn Hamlets Mund zerfasert scheint durch die gebrüllte Litanei des Entweder-Oder, dann fragt der alte Hamlet nur leise, ob schon der nächste Krieg begann. Folge aller Taten: nur das nächste Elend. Wer mag, erzähle Menschen-Geschichte anders! Perceval erzählt sie so.

Man kann ein Theater so verlassen verlassen wie eine Kirche, in der soeben Gott – also alles, woran man sich halten möchte – zurückgenommen wurde. Empfehlenswert, so eine Aufführung? Geh hin oder geh nicht hin.

Nächste Aufführung: 13. Oktober

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