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Streitfrage: Ist die Union noch die Partei der Konservativen?

  • Lesedauer: 8 Min.
Es debattieren: Prof. Dr. Franz Walter, Jahrgang 1956, Professor für Politische Wissenschaften an der Universität Göttingen und Prof. Dr. Georg Fülberth, Jahrgang 1939, Historiker und Politikwissenschaftler, war von 1972 bis zu seiner Emeritierung 2004 Professor für Politikwissenschaft in Marburg.

Volkspartei ohne Zusammenhalt

Von Franz Walter

Für alteingesessene Konservative und streng gläubige Katholiken sind das keine leichten Zeiten. Eine christdemokratische Kanzlerin und ein christdemokratischer Bundespräsident in zweiter Ehe. Ein Ministerpräsident, über dessen außereheliche Amouren und Reproduktionen die Regenbogenpresse monatlang genüsslich mit allerhand Fotos berichtet hatte. Die manifeste Krise der Kirchen, die gesellschaftliche Einsamkeit der Erika Steinbach.

Im Grunde ist die bundesdeutsche Mehrheit über all das bemerkenswert gelassen, ja gleichgültig zur Tagesordnung übergegangen. Nicht so aber die CDU selbst. Mindestens die älteren Mitglieder in der Fläche, gleichsam zwischen Heiligenstadt und Meppen, zwischen Warendorf und Passau, tun sich ersichtlich schwer mit der Selbstsäkularisierung ihrer Anführer. In altchristdemokratischen Kreisen galt vor Jahren das seinerzeit muntere Paarungsverhalten von Joschka Fischer und Gerhard Schröder noch apodiktisch als verwerflicher Ausdruck einer wertentbundenen und unbürgerlichen Lebensweise. Mit der Empörung darüber konnten die harten CDU-Strategen die eigenen Traditionstruppen verlässlich in die Wahlkämpfe schicken. Damit ist es nunmehr vorbei.

Zugleich und andererseits wird das traditionelle Terrain der Christdemokraten schmaler und schmaler, da zunehmend weniger Menschen im nachtraditionellen Deutschland noch treue Kirchgänger und gehorsame Adepten päpstlicher oder bischöflicher Moralimperative sind. Diese sozialkulturelle, von den Roten und Grünen kräftig geförderte Entwicklung öffnete den Raum eben auch für christdemokratische Würdenträger, neue Liebes- und Paarbeziehung zu beginnen. In den ersten Jahrzehnten der rheinisch-katholisch geprägten Alt-Bundesrepublik wäre das für einen prominenten CDU-Repräsentanten politisch sehr viel weniger gefahrlos gewesen, weil er damit in den eigenen Reihen und der dort produzierten gesellschaftlichen Normmentalität auf kräftige, karrieregefährdende Ablehnung gestoßen wäre.

Insofern profitieren nun auch christdemokratische Spitzenpolitiker ganz privat von einer Entwicklung, die der Union als Partei indes noch erhebliche Probleme bereiten möge. Schließlich sind die Vorboten davon bereits seit Ende der 1990er Jahre unschwer zu erkennen. Denn durch die Abschwächung des einst so emotionalisierenden kulturellen Konflikts mit der moralisch als lasziv denunzierten Linken gelingen der CDU keine aggressiven Lagerwahlkämpfe à la Adenauer und Kohl mehr. Die militante Gesinnungsfront dafür ist zerbröselt. Die normative Basis in der christlichen Anhängerschaft ist nach vielen Jahrzehnten homogener Eintracht gesprengt; die einst tief konservativen Moralüberzeugungen, Ethiken, Glaubensinhalte im Bürgertum Deutschlands haben sich seit den 1960er Jahren gelockert und gelöst. Das junge und mittelalte Bürgertum in Deutschland will sich ebenso wenig für alle Zeiten in Partnerschaften, Religionsgemeinschaften und lokalen Sozialkontrollen zwingen und festbinden lassen wie der früher gerade deshalb wütend geächtete linke Gegner.

Für die CDU als Partei aber wird es dadurch immer schwieriger. Denn sie verliert immer mehr die Klammern, die diese heterogene Volkspartei einst fest zusammenhielten. Die Union verstand sich über Jahrzehnte als politische Kampfgemeinschaft. Doch solche Truppen brauchen den Feind und das fest umrissene Feindbild. Früher waren das der Sozialismus, die Roten, die linken Gegner des Privateigentums. Es gibt sie nicht mehr. Zu den kittenden Feinden der Christlichen Union gehörten auch die Kritiker des Nationalen, die Polemiker gegen Heimat und Patriotismus. Doch dieser Typus befindet sich heute massenhafter im global agierenden Bürgertum als im bräsig-kleinbürgerlichen Restsozialismus.

So blieb den Christdemokraten alten Schlages zuletzt nur noch die Lebensweise, das Kulturelle, das Moralische – das Anti-68erhafte. Nun ist auch das perdu. Die Dämme, die die Union gegen die Kulturrevolte, den Hedonismus, den libertären Postmaterialismus errichtet hatte, sind gebrochen. Die neue christdemokratische Parteielite hat die Waffen gegen das, was die Filbingers, Strauß’ und Dreggers noch verächtlich den »Zeitgeist« nannten, gestreckt.

So aber sind die Grundlagen des alten christdemokratischen Erfolgsmodells unübersehbar porös geworden. Die bemerkenswert geschmeidige Elastizität des früheren christdemokratischen Erfolgmodells war immer abhängig von den festen Wurzeln, die sie in den katholischen und konservativen Lebenswelten besaß. Die Loyalität der Traditionstruppen sicherte den politischen Spielraum der christdemokratischen Führungsmannschaften ab. Die Autorität der Kirche war die Quelle für diese Loyalität. Der gemeinsame Glaube wiederum verband verschiedene soziale Schichten und Generationen. Die Traditionsstoffe hatten also die gesellschaftliche Integration ermöglicht, von der die Volkspartei nur zehrte, die sie aber nicht selbst herstellt und als säkularisierte liberale Zweckgemeinschaft auch nicht herzustellen vermag. Eben das wird künftig zum Problem, da die traditionsgestützten Voraussetzungen von politischer Elastizität und komplexer Integration offenkundig unaufhaltsam dahinschwinden.

Indes, merkwürdig ist das schon. Denn schließlich: Der Konservatismus in Deutschland verliert die Schlacht gegen den Wertewandel in einer Zeit, in der doch dieser an Flair, Zauber und Attraktivität massiv einbüßt, wie zuletzt auch die Shell-Jugendstudie wieder gezeigt hat. Die Konservativen haben merkwürdigerweise politisch resigniert, als die Quellen für ihrer Renaissance kulturell gerade wieder ein wenig zu sprudeln scheinen.

Prof. Dr. Franz Walter, 1956 geboren, ist Professor für Politische Wissenschaften an der Universität Göttingen. Er ist SPD-Mitglied und veröffentlichte dieses Jahr im Suhrkamp-Verlag »Vorwärts oder abwärts? Zur Transformation der Sozialdemokratie«.

In marktliberaler Gefangenschaft

Von Georg Fülberth

Verlieren Parteien Wahlen und erhalten sie dauerhaft schlechte Umfragewerte, kommt es zu Flügelkämpfen. In diesen wird die Forderung laut, man müsse eine Werte-Debatte führen. Zurzeit beobachten wir das in der Union. Erika Steinbachs Abstieg gilt als Beispiel dafür, dass die CDU ihren »konservativen Flügel« zu verlieren drohe. Was ist damit gemeint?

Wie schon der Name zeigt, ist »Konservativismus« ein defensiver Begriff. Es soll etwas gesichert werden, das durch die Zeitläufte bedroht sei. Diese Haltung entstand in der französischen Revolution. Der Feind war der Fortschritt, definiert durch Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die drei Gegenbegriffe waren – gemäß einer treffenden Charakterisierung durch Ernst Nolte – Ordnung, Differenz, Distanz.

Die Ordnung antwortete auf die Freiheit, die Differenz auf die Gleichheit, die Distanz auf die Brüderlichkeit.

Der historische Konservatismus war als Opposition stark in Perioden seiner machtpolitischen Schwäche: Wenn der »Zeitgeist« – auch er gehörte zu den Feindbildern – angeblich Gleichmacherei, den Sieg der Masse (noch ein Übel, das zu bekämpfen war) und Chaos hervorbrachte, waren die Distinguierten leicht identifizierbar.

Insofern ist jetzt keine gute Zeit für die Konservativen. Es scheint, als hätten sie sich totgesiegt. Die Distanz, auch als soziale Ungleichheit eines ihrer Ideale, wird zur Normalität. Sie hat – geht man von der Einkommensverteilung aus – in der rot-grünen Regierungsperiode deutlich zugenommen. Für ihre Durchsetzung bedurfte es keiner besonderen konservativen Partei.

Zur materiellen Distanz gehört auch die Differenz der Status-Merkmale: von der Kleidung bis zu den Wohnquartieren und der Schulbildung. Der Soziologe Michael Hartmann hat herausgefunden, dass gerade diejenigen neu-akademischen Aufsteiger, die es nach 1968 zu etwas gebracht haben, sehr darauf achten.

Wir kommen zu einem überraschenden Befund: Zunehmende gesellschaftliche Ungleichheit schwächte die Kenntlichkeit der Union.

Der Konservativismus der CDU war in der Vergangenheit allerdings weniger durch sozialdarwinistische Ungleichheitsideologie geprägt als durch die Betonung bestimmter Werte: Familie, Heimat, Nation, christliche Religiosität, dies alles nicht nur für den Sonntagsgebrauch, sondern auch im Alltag.

Die Erosionen sind hier ebenfalls unübersehbar. Die alten Normen des Privatlebens funktionieren selbst als Heuchelei nicht mehr. Mit den Bauern als Massenschicht ist eine Kultur der lokalen Bindung verschwunden. Christdemokratische Kanzler haben die Europäisierung der Bundesrepublik vorangetrieben. Wer zur Armee geht, wird nicht zum Dienst am Vaterland gerufen, sondern bekommt dort einen Job. In der Propaganda der deutschen Leitkultur und der Inneren Sicherheit allerdings wird das Ordnungsideal hochgehalten, oft in der aggressiven Abweisung des Fremden.

Vom Konservativismus bleibt immerhin eine Grundeinstellung, die nicht mehr die Veränderung bekämpft, sondern lediglich deren Tempo zu mindern sucht und das Herkommen als eine Ressource nutzt: Tradition ist hier ein Schatz von Erfahrungen, auf die man sich so lange wie möglich verlassen möchte und die vor überstürzten Experimenten schützen. Diese Orientierung hat in den vergangenen Jahrzehnten zur Massenverankerung der CDU beigetragen, wenn sie Sicherheit versprach. In der christlich-demokratischen Arbeitnehmerschaft z. B. war man zugleich katholisch, sozial und konservativ. Im Kolpingverein und bei Norbert Blüm war zu lernen, diese Kombination gehe bis auf den heiligen Thomas von Aquin zurück.

Dass sich das in der Gegenwart nicht mehr halten lässt, hat mit einem peinlichen Geheimnis des neueren Konservativismus in Deutschland zu tun: Er ist nur noch in dem Maße möglich, wie es der Wirtschaftsliberalismus erlaubt. Dieser aber – und nicht der Sozialismus – ist längst der Hauptfeind. Er forciert Ungleichheit, aber er bedroht zugleich die familiären, heimatgebundenen und religiösen Konventionen sowie deren sozialen Unterbau. Indem die CDU sich mehrheitlich als liberal-konservativ bezeichnet, benennt sie ihr Dilemma selbst, ohne es zu wissen. Die innerparteilichen Gegenkräfte sind schwächer geworden. Ein konservativer Überbau verträgt sich schlecht mit marktradikaler Dynamik. Deshalb schlägt die CSU immer wieder gegen die FDP aus und gerät doch seit Längerem immer tiefer in den Sog des Marktliberalismus, der ihre Hegemonie in Bayern bedroht.

Und Erika Steinbach? Gehört nicht zum Thema. Sie spielt sich als die letzte Konservative auf und ist doch in erster Linie eine Revanchistin. Dass Merkel sie in den Hintergrund drängen muss, hat denselben Grund, aus dem sie auch gegen Thilo Sarrazin vorging: internationale Rücksichten.

Hier droht der CDU kein ernsthafter Terrainverlust mehr. Wohl aber woanders: Der deutsche Konservativismus sicherte sich seine Basis in der Vergangenheit dadurch, dass er Ungleichheit mit einem gewissen Maß an sozialer Sicherheit ausstattete. Er ist dabei, dies zu verspielen.

Prof. Dr. Georg Fülberth, Jahrgang 1939, ist Historiker und Politikwissenschaftler. Von 1972 bis zu seiner Emeritierung 2004 war er Professor für Politikwissenschaft in Marburg. In den sechziger Jahren gehörte Fülberth der SPD an, seit 1974 ist er Mitglied der DKP. Zuletzt veröffentlichte er in der Reihe »Basiswissen Politik, Geschichte, Ökonomie« des Papyrossa-Verlags die Bücher »Kapitalismus« und »Sozialismus«.
Prof. Dr. Franz Walter
Prof. Dr. Franz Walter
Prof. Dr. Georg Fülberth
Prof. Dr. Georg Fülberth
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