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Lebensort Schule

Beim Ausbau des Ganztagsangebots hat auch Sachsen-Anhalt noch Nachholbedarf

  • Lesedauer: 5 Min.
In der laufenden Legislaturperiode hat Sachsen-Anhalt 24 neue Ganztagsschulen bewilligt. Doch noch immer ist dieser Schultyp in der Minderheit – lediglich 126 der etwa 1000 Schulen im Land sind auf Ganztagsbetrieb umgestellt. Diese werden von Sabrina Mewes (links) und Antje Pechau von der Serviceagentur »Ganztägig lernen« betreut. Uwe Kraus sprach mit ihnen.
Ganztagsschulen müssen mehr bieten als nur einen gedeckten Mittagstisch.
Ganztagsschulen müssen mehr bieten als nur einen gedeckten Mittagstisch.

ND: Ganztagsschule, klingt das nicht wie Weiterführung des Unterrichts mit anderen Mitteln?

Pechau: Es wird ein guter Wechsel von Anspannung und Entspannung praktiziert, also nicht vormittags die Arbeit, nachmittags der Spaß. Es kommt uns auf eine Rhythmisierung an.

Mewes: Uns geht es nicht um die Verlängerung des Schulalltages, sondern um ein völlig neues pädagogisches Verständnis. Wir wollen eine erweiterte Lernzeit mit differenzierten Methoden und neuen Organisationsformen. Damit machen wir Bildung vielfältiger.

Frau Pechau, Sie sind Lehrerin. Wie verträgt sich das mit den Vorstellungen von Ganztagsschule?

Pechau: Durchaus gut. Ich bin dank der Unterstützung des Kultusministeriums, mit dem wir sehr gut kooperieren, abgeordnet. So wird keine Theorie übergestülpt, sondern da kommt jemand aus der Praxis, der dicht dran ist an den Lernerfahrungen. Hier im Service-Team stammen wir aus recht unterschiedlichen Professionen, das bereichert schon. Aber es ist durchaus Umdenken auf beiden Seiten gefordert.

Also ein ganz anderes Verständnis Ihres Pädagogen-Daseins?

Pechau: Ja, aus dem Wissensvermittler wurde der Lernbegleiter.

Geht das unbeschadet von heute auf morgen?

Mewes: So ein Ganztagsschulkonzept entsteht ja in einem langen, durchaus schwierigen Prozess, in dem wir Eltern, Kinder und Lehrer mitnehmen. Sie gilt es, methodisch fit zu machen. Selbstorganisiertes Lernen will geübt werden. Dabei helfen wir.

Sie reden viel von den Lehrern. Für die Schüler aber heißt Ganztagsschule, weit vor 6 Uhr aufzustehen. Morgens vor 7 Uhr rauschen aus knapp 30 Zubringerorten Busse in der Ganztagsschule Wanzleben an, in der Altmark fährt man noch länger über Land. Sind die Kinder nicht vollkommen erschöpft, wenn sie gegen 16 Uhr den Heimweg antreten?

Pechau: Gute Dinge scheitern oft an banalen Sachen und wenn es Busfahrzeiten sind. Rhythmisierung bedeutet eben auch, dass es eine offene Eingangsphase gibt, eben nicht Punkt 7.30 Uhr der Fachunterricht beginnt, sondern die Angebote flexibel gehandhabt werden.

Mewes: Wir sprechen vom Lern- und Lebensort Schule. Wenn man so ein zunehmend verwaistes Altmarkdorf sieht, wo außer dem Kirchturm fast nichts mehr da ist, da gewinnt die Schule als Ort von Arbeitsgemeinschaften, Sport und Hobby deutlich an Gewicht.

In der ablaufenden Legislaturperiode bewilligte Sachsen-Anhalt 24 neue Ganztagsschulen. Gibt es da gegenüber den alten Bundesländern Nachholebedarf, wofür Ihre Agentur gegründet wurde?

Mewes: Ganztagsschulen liegen voll im Trend. Unsere Agentur arbeitet seit 2005. Dass in Bayern erst vor Kurzem eine solche Agentur entstand, zeugt davon, dass es nicht vorrangig ein Ost-West-Gefälle gibt, obwohl natürlich in Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg bereits längere Erfahrungen bestehen. Die nutzen wir ebenso wie die aus Finnland oder Großbritannien.

Pechau: Klar gibt es Nachholebedarf. Ich war in Großbritannien, da gibt es ganz andere Personalschlüssel, da kommt auf 60 Schüler ebenso viel Unterstützerpersonal. Nicht alles Lehrer, aber dort sind Schulpsychologen Standard, bei uns gehen die Neueinstellungen bei pädagogischen Mitarbeitern gegen null.

Trotzdem signalisiert das Land, das Netz der Ganztagsschulen auszubauen?

Mewes: Wir spüren ein Interesse, schließlich gehört zum Konzept der Ganztagsschulen das, was die Wirtschaft fordert: Nicht allein das Vollstopfen mit Wissen, sondern die Ausprägung von Kompetenz.

Was, gelinde gesagt, viele Lehrer überfordert.

Pechau: Lehrer sind keine Multifunktionssubjekte. Sie setzen sich mit ihrer neuen Rolle auseinander. Doch wenn wir als Service-Agentur außerunterrichtliche Lernorte propagieren, müssen wir die Schulen auch dabei unterstützen, Kooperationspartner zu finden.

Mewes: Keine Ganztagsschule gleicht der anderen. In ihrem Findungsprozess setzen sie ganz bewusst auf eine Profilierung, die sie von der Schule nebenan unterscheidet. Dazu kommt, wir betreuen Schulen mit Ganztagskonzepten in allen Schulformen, von der Lernbehinderteneinrichtung über Sekundarschulen bis zum Elite-Gymnasium, private ebenso wie staatliche.

Welche Profile sind das?

Mewes: Es ist ein bunter Strauß voll Schule, sagen wir immer. An der Sekundarschule Friedrichstadt in Wittenberg geht es um Sport und Kreativität, in Salzwedel gibt es eine gesundheitsfördernde Schule, dazu kommen umweltorientierte Einrichtungen ebenso wie Europa-, UNESCO- oder Comenius-Projektschule und natürlich solche, die sich als Schule ohne Rassismus profilieren wollen. In Wanzleben erproben wir gerade das »Labor Lernkultur«.

Pechau: Wichtig ist, dass jede Schule ihren eigenen Weg geht, von uns unterstützt und ins Netzwerk aufgenommen, aber wir pfropfen da nicht unsere Vorstellungen auf, sondern verstehen uns als Dienstleister, die Anschubser. Wir verstehen uns als lernende Service-Agentur. Was wir an guten Ansätzen aufnehmen, vermitteln wir weiter. Wir kommen zur Beratung vor Ort, wollen statt Bildungstourismus den Erfahrungstransfer der Schulen untereinander. In unserem thematischen Netzwerk »Lernkultur – für erfolgreiches Lernen« diskutieren Experten aus Ganztagsschulen des Landes ihre Konzepte und entwickeln schulübergreifend ihre Lehr- und Lernkultur weiter. Fachliche Unterstützung kommt durch Unis und Fachhochschulen in Sachsen-Anhalt und bundesweite Experten aus den Programm-Werkstätten.


Ganztags lernen?

Befürworter von Ganztagsschulen heben in erster Linie den pädagogischen Nutzen des Angebots hervor: An Ganztagsschulen können neue Unterrichtsformen umgesetzt werden, schwache Schüler besser gefördert, das soziale Lernen betont und die Schule zum Lebensort werden. Konservativen Politikern fällt es dagegen noch heute schwer, diese Schulform zu akzeptieren. Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) erklärte unlängst: »Wir möchten, dass für die Eltern die Wahlmöglichkeit besteht, die Betreuung der Kinder am Nachmittag selbst zu übernehmen.« Und auch in Baden-Württemberg werden gebundene Ganztagsschulen in erster Linie unter Berücksichtigung »sozialer Aufgabenstellungen« errichtet, wie das Kultusministerium in Stuttgart betont.

Bei den Eltern stehen Ganztagsschulen dagegen hoch im Kurs. Das ergab eine aktuelle repräsentative Umfrage von Infratest dimap im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Zwei Drittel der Befragten begrüßen demnach das Angebot. Während allerdings in den Ost-Ländern 73 pro Ganztagsschule sind, sind es in den westlichen Bundesländern lediglich 60 Prozent. jam

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