Der Gaucho – Chimäre der Freiheit

Das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse: Für Argentinien gilt, was für alle westlichen Länder zutrifft

  • Hans-Jürgen Heise
  • Lesedauer: 7 Min.

Der berühmteste Argentinier ist wohl Che Guevara, der geistig bedeutendste Jorge Luis Borges. Der erste war ein Mann der Tat, der zum Mythos wurde, der zweite ein Mythomane, der zeitlebens den labyrinthischen Linien der Existenz ein kryptisches Deutungsraster überzustülpen versuchte. Der eine glaubte an die revolutionäre Dynamik des bewaffneten Kampfes. Der andere, wie er in einem der Essays seiner »Geschichte der Ewigkeit« postulierte, an die Kreisförmigkeit der Zeit, die keine Veränderung zulässt, also suchte er Zuflucht beim Stoizismus Mark Aurels, bei Schopenhauers Pessimismus und, in gewisser Weise, auch bei Nietzsche, den er spöttisch paraphrasierte: »Zur Ewigen Wiederkehr pflege ich ewig wiederzukehren.«

Borges' eklektische Metaphysik hatte, bevor sie sich ins Universelle weitete, argentinische Wurzeln und speiste sich aus letztlich ruralen Quellen: der Pampa und der – stark idealisierten – Figur des Gaucho, dessen Gitarrenspiel in der kollektiven Erinnerung nachklang und dessen Milongas und Messerstecher-Moritaten eine Art Grundakkord lieferten.

Die Hauptstadt Argentiniens ist seit ihrer Entstehung 1535 der dramatische Gegenpol zur Weite des Hinterlandes, das lange als bedeutungslos galt, weil es nichts als Raum war, ohne die Tiefendimension der Geschichte. Das Historische, meinte Ortega y Gasset in seiner Studie »Hegel und Amerika«, hat Relevanz lediglich durch eine gegenwartsbezogene Vergangenheit. Die Einöden Argentiniens aber hatten keine Vergangenheit – nicht bevor spanische Conquistadoren sie in Besitz nahmen, in der Hoffnung, Siber (argentino!) zu finden am Rio de La Plata, am Silberstrom.

Das Riesenland an der Spitze Südamerikas bot jedoch kein Äquivalent zu den Goldschätzen Mexikos und Perus. So wurde es für Jahrhunderte zu einer unbedeutenden Randregion, die nur interessant für arme europäische Auswanderer war – auch für sephardische Juden, die Spanien wegen der Inquisition verließen und so mit anderen Exilanten den Grundstock der Bevölkerung von Buenos Aires bildeten.

Die Pampa, groß wie Westeuropa, war eine Landschaft, in der sich nichts ereignete. Und die Indios, Jäger und Sammler, wurden von den Siedlern bald ausgerottet – ähnlich wie die Prärie-Indianer Nordamerikas, die durch ihre weiten Streifzüge ebenfalls das Wirken von Farmern und Viehzüchtern behinderten.

Der Gaucho diente der jungen Nation als vermeintlicher Archetypus eines noch naturbelassenen Lebens. Dabei hatte schon 1775 ein Reisender unter dem Pseudonym Concolorcorvo ein ungeschöntes Bild des Gaucho enworfen, hatte die rauen, oft brutalen Sitten der Viehtreiber beschrieben, ohne jene Empathie, die wir von Atahualpa Yupanqui kennen, dem schwermütigen Gitarristen, der, bevor Edith Piaf ihn 1948 durch einen Gemeinschaftsauftritt zum Weltstar machte, in seiner Heimat einen eigenen elegischen Ton gefunden hatte: »Der Mensch ist Erde, die geht.« Oder: »Die Schätze der Reichen wandern in die Bank,/ die der Armen in die Gitarre.«

Die eigentliche Musik der Argentinier ist allerdings nicht die ländliche Folklore, sondern der Tango, ein, wie Enrique Santos Discépolo, einer der besten Textschreiber, gesagt hat, trauriger Gedanke, den man tanzt. Eine Gefühls- und Stilmischung aus der kubanischen Habanera, diesem tropikalen Hängemattenwiegenlied, italienischen Einflüssen und der argentinischen Milonga, einem Gaucho-Tanz, bei dem sich ursprünglich Männer im Arm hielten.

Der Tango, der zweimal um die Welt ging – zuerst 1905 als modischer Gesellschaftstanz und dann, nach dem Zweiten Weltkrieg, als konzertanter tango nuevo, als neuer Tango – ist in Argentinien einerseits ein schnulziger Feierabendschwof, andererseits eine sozialkritische Großstadtballade, in der Wut und Gemüt eine Verbindung eingehen. Er ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Bordellwelt von Buenos Aires entstanden, im schäbigen, äußerst kriminellen Stadtteil La Boca (der Mund, die Hafenmündung). Heute ist in dieser Gegend alles verfallen, abgewrackt, verrottet, sogar der ursprüngliche Schmutz der Armut. Hier und da richtet sich hinter abgebröckelten, grell überpinselten Fassaden die Schickeria ein, die weltweit bisher noch jedes Elendsviertel, das ihr ins Visier geraten ist, kaputt saniert und der Würde ihres Elends beraubt hat.

Buenos Aires, einst wie Madrid oder auch andere verschlafene Städte, ein Dorf mit einem Anflug von Hauptstadtcharakter, ist heute eine »location«, wie man sie, auswechselbar, auf allen Kontinenten findet. Niemand könnte mehr wie der junge Borges dichten: »Inmitten der Unschlüssigkeit des Brokats/ verewigen die Mahagonimöbel/ ihre uralte Plauderei ...« Selbst ehemals avantgardistische Verse, wie in Oliverio Girondos 1922 publik gemachtem Bändchen »Zwanzig Gedichte, in der Straßenbahn zu lesen« haben heute eine Aura des Vormodernen, zu stark Ästhetisierenden, wie es der poetische Esprit in den Kindertagen der Technik hervorgebracht hat.

Die spanischen Eroberer haben Buenos Aires schon im 16. Jahrhundert, gleich nach ihrer Landung in der La-Plata-Region, konzipiert, nach jenem Schachbrettmuster der Straßen, das mit der Renaissance in die architektonische Planung kam und zum ersten Mal in Santo Domingo, der überseeischen Erstgründung, angewandt wurde. Zunächst geriet alles viel zu groß, die Parallelstraßen, die abgezirkelten Häuserblocks. Derart auftrumpfend wollte man dem neuen Kontinent einen zusätzlichen Akzent geben, gleichwertig mit Mexico-Stadt und Lima, den Nachfolgekapitalen der besiegten Azteken- und Inka-Reiche.

César Fernández Moreno, ein 1919 geborener Dichter, der es mag, wenn sich lyrische Metaphern überraschend in Banalität auflösen, hat im Titelstück seines Versbandes »Argentinier bis in den Tod« von 1963 eine Fülle desillusionierender Feststellungen aneinandergereiht und ein Doppelporträt von sich und seinem Heimatland entworfen, das in der Weltliteratur seinesgleichen sucht. »... buenos aires wurde zweimal gegründet/ ich hingegen sechzehnmal .../ von europa brachte man mich herbei/ stück für stück/ erst die hälfte/ die andere hälfte dann zwei jahrhunderte später/ so habe ich verschieden lange beine/ ... na schön bin eben argentinier/ ich glaubte dass das Vaterunser ein tango ist ...«

Moreno evoziert die Allgegenwart moderner Identitätslosigkeit. Er spricht als Argentinier. Doch Argentinien ist überall. In unserer globalisierten Welt, in der Familien, Staaten, Kulturen zerfallen und Virtualität das Erstgeburtsrecht der Realität hinterfragt, erscheint Argentinien als parabolisches Beispiel eines ungelösten, sich verschärfenden Konflikts zwischen Stadt und Land, Kultur und Natur oder, wie die argentinische Literatur im 19. Jahrhundert befangen feststellte: zwischen Zivilisation und Barbarei.

Seinerzeit, nach der Befreiung Argentiniens von der spanischen Kolonialmacht, war es der schriftstellernde Politiker Domingo F. Sarmiento, der in seinem Romanessay »Facundo / Civilización y Barbarie« den Finsternissen von Pampa und Seele entgegentrat und, konträr zu José Martí, Rubén Darío und anderen, sich auf die Seite der Vereinigten Staaten schlug. Die USA hatten 1823 mit der Monroe-Doktrin eine politisch-ökonomische Weichenstellung vor- genommen, mit der sie alle weiteren Besitzergreifungen europäischer Mächte auf dem amerikanischen Kontinent untersagten, zunächst eine reine Schutzmaßnahme, schließlich jedoch ein Instrument, selber in die befreiten territorialen Räume vorzustoßen und mit aggressiver Hegemonialhaltung an die Stelle der früheren Ausbeuternationen zu treten.

Sarmiento stellte sich ein von tüchtigen Kreolen bewirtschaftetes Argentinien vor, das vor allem Weizen und Rindfleisch für die Weltmärkte lieferte. Solchen Ideen standen die regional gesinnten Traditionalisten entgegen, besonders die Gutsherren, die von der Entwicklung ebenso beiseite geschoben wurden wie die Peones und Gauchos, all die Habenichtse von Landarbeitern, die gleichwohl die Glorie der Freiheit verkörpern.

Übrig blieben die Dominanz der großen Städte, Bankenwesen, Kommerz, ausländische, das heißt US-amerikanische Konzerne, ein schäbiges Landproletariat sowie entfremdete Angestellte, Arbeiter und sonstige Lohnabhängige, millionenfaches menschliches Strandgut, wie es beispielsweise der 1967 geborene Pablo Ramos beschreibt, in seinem Roman »Der Ursprung der Traurigkeit«, der vom Dahinvegetieren auf einem Großstadtfriedhof erzählt.

Ein Mensch sucht sich weder sein Land noch sein Zeitalter aus. So gilt für Argentinien, was mehr oder weniger für alle Länder des Westens zutrifft. Die Deckung verschwindet nicht allein aus den Währungen. Sie verschwindet auch – verdunstete förmlich – aus der Substanz des Lebens und dem Gehalt der Worte. Oder, um es mit Octavio Paz zu sagen: »Unsere Epoche ist das erste Zeitalter, das sich anschickt, ohne metahistorische Doktrin zu leben. Unsere Überzeugungen sind nicht länger kollektiv verankert, sie sind Privatsache. Eine riskante Erfahrung.«

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