Tod und Weiterleben

Thomas Lehr zwischen New York, Bagdad und Berlin

  • Uli Gellermann
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Buch ist gelesen, Verstand und Herz sind tief berührt: Vom kurzen Leben zweier junger Frauen, deren Zeit parallel läuft, doch nicht getrennt. Die eine starb in New York in einem der Twin-Towers an jenem 11. September 2001, der einen tiefen Schnitt zu machen schien zwischen uns und den anderen. Die zweite junge Frau wurde, nur wenige Jahre später, Opfer eines Anschlags in Bagdad, als aus dem Schnitt längst ein klaffendes Loch geworden war.

Dass wir aber, gleich wie tief der Graben zwischen den Muslimen und uns geworden sein mag, zur selben Gattung gehören, dass sich ihre und unsere Geschichte immer wieder berührt hat und berührt, dass der Graben überwunden werden muss, darüber schreibt Thomas Lehr in seinem außergewöhnlichen Roman »September. Fata Morgana«. Es ist ein Buch von der Liebe geworden und vom Tod, von der Kindes- und Elternliebe und von der Kraft des Weiterlebens. Zugleich ist ihm eine historische, politische Dimension zu eigen, die dem Subjektiven einen festen Rahmen gibt.

Sabrina, ein Kind aus einer deutsch-amerikanischen Ehe, bestimmt den einen großen Erzählstrang. Sie nimmt für sich ein, wenn Thomas Lehr erzählt wie sie aufwächst, wie sie anfängt, sich ihre Welt zu erobern in den USA der gebildeten Mittelschicht, wie sie zwischen den getrennten Eltern pendelt und ein eigenes, neugierig-kluges Leben entwickelt.

Mit Martin, ihrem Vater, dem Professor der über einer Arbeit zu Goethes Frauen brütet, gibt der Autor großzügig die Gelegenheit, einen deutschen Seitenarm seines Erzählens zu befahren: Schließlich, sagt Sabrina bei einer Deutschlandreise, »bin ich es gewohnt, dass mein Vater dem Deutschtum immer auf den deutschesten Deutschgrund gehen muss ...«. Das ist, als die beiden das Pergamon-Museum in Berlin besuchen und Martin bemerkt, dass es die Deutschen waren, die vor mehr als hundert Jahren begonnen hatten, in Babylon zu graben.

Muna ist die Tochter des Arztes Tarik. So wie ihr arabischer Name sagt, ist sie eine »Gewünschte«, umhüllt von der Liebe ihrer Eltern, geworfen in das Bagdad des Saddam Hussein – in jenem Irak, der dort liegt, wo die ersten Hochkulturen aus dem Bauern den Städter entwickelten und jenem Land, von den Osmanen zusammengerafft und den Engländern als Öl-Quelle besetzt, das sich und sein Öl aus der Hand des Westens befreite, um unter die Räuber der Baath-Partei zu fallen. Thomas Lehr lässt Tarik, der aus dem französischen Exil zurück nach Bagdad kommt, die Hoffnung denken auf ein Land, das die Kolonisation abschüttelt, die Selbstlähmung überwindet. »Es würde sich rezivilisieren, weil es die älteste der Zivilisationen schon in sich trug.« Muna ist ein »SuSchi«, sagt sie, mit einem »sunnitischen atheistischen Vater und einer schiitischen Mutter« begabt, und beschreibt so eine der vielen Dilemmata des geschundenen Landes. Irak, gefoltert von Saddam, durch das westliche Embargo vom Hunger gewürgt und zerbombt von der Koalition der Willigen. Das alles, in einer bezwingenden Sprache vorgetragen, schildert der Autor, als habe er selbst im Bagdad jener Tage gelebt.

Ohne Punkt und Komma fließt der Text über die Seiten. Wie ein langes Gedicht füllt er das Buch. Das ist gewöhnungsbedürftig. Aber wer sagt denn, dass Gewohnheiten nicht gebrochen werden dürfen? Allein Luisa, die spanische Freundin des deutschen Professors, wäre in der Lage, sich auf Lehrs Schreibart einzulassen. Luisa kann Sätze sagen wie den über den deutschen Kanzler, der nicht in den Irak-Krieg will: »Er hat recht und er will die Wahl gewinnen.« Und zu Bush jr. fällt ihr ein: »Der das Rachebedürfnis, die Ohnmachtsgefühle und die Verzweiflung einiger Millionen mit der eiskalten Ölmachtpolitik seiner berechnenden Freunde zu einer scheinbar urgerechten Sache verknetet ... was für eine Scheiße.«

Ohne zu predigen lässt »September« die Einsicht zu, dass der Frieden zwischen den gedemütigten Muslimen und dem verschreckten Westen nur durch dessen Verzicht zu haben wäre: Verzicht auf den Diebstahl der Rohstoffe, Verzicht auf die billige Arbeit der anderen, Verzicht auf die Ausbeutung. Dann, vielleicht, wäre das größte Völkerschlachten zu beenden.

Thomas Lehr ist ein deutscher Autor aus der Reihe nach Christa Wolf und Günther Grass, der sich auf seine Zeit einlässt, der vom wirklichen, schönen und dreckigen, zarten und brutalen Leben erzählt, der in der Lage ist, die langen Linien der Geschichte zu sehen und sie zu Geschichten zu flechten, die mit uns, mit dir und mir, zu tun haben: So einer trägt den Stab weiter, den Heinrich Mann schon in der Hand hielt, den Alfred Andersch und Franz Fühmann aufnahmen, um ihn in der langen Stafette humanistischer Botschaften an die folgende Generation weiterzugeben. So einer erkennt die Welt, um sie zu verändern.

Thomas Lehr: September. Fata Morgana. Roman. C. Hanser. 480 S., geb., 24.90 €.

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