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Wie eine Familie

DIE AGFA-ORWO-STORY

  • Nora Goldenbaum
  • Lesedauer: 3 Min.

Ohne die Filmfabrik ist Wolfen nicht zu denken, lautet der erste Satz. Das einst knapp 600 Seelen zählende Dorf verdankt dieser den Aufstieg zu einer Stadt mit Weltruhm. Darauf ist man noch heute stolz, bemerkten Rainer Karlsch und Paul Werner Wagner bei ihren Gesprächen mit ehemaligen Arbeitern und Angestellten vor Ort: »Das Werk war ihre Familie ... Mit glänzenden Augen erzählten sie, wie stolz sie einst waren, in der Filmfabrik arbeiten zu dürfen … Es war der Stolz spürbar, einstmals zur Weltspitze gehört zu haben.«

Begonnen hatte alles vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit Firmengründer Paul Mendelssohn Bartholdy, zweiter Sohn des berühmten Komponisten Mendelssohn Bartholdy. Im Alter von 26 Jahren gründete er mit Carl Alexander von Martius, einem Schüler von Justus von Liebig, einen Betrieb zur Herstellung von Anilinfarben, die AGFA. »Beide gehörten zu einem neuen Typus von Industriellen, waren Wissenschaftler und Unternehmer zugleich.«

Mit dem Aufkommen von Fotografie und Film begann eine Erfolgsgeschichte, die die Konkurrenz wie Kodak vor Neid erblassen ließ. Die Berliner Produktionsstätte war bald zu klein geworden. Die 1909 südlich von Berlin errichtete Wolfener Fabrik machte nicht nur durch Innovationen und Qualität auf sich aufmerksam, sondern auch hinsichtlich sozialer Einrichtungen. Es gab früh hier schon betriebliche Wohlfahrtseinrichtungen, Werksklinik, Kindergarten, Bücherei, Gärtnerei, Wäscherei etc., ein Kauf- und ein Kulturhaus sowie Sportvereine. Diese Tradition wurde in der DDR bewahrt. Und der FC Wolfen, wie die Autoren nicht vergessen zu vermerken, gehörte zu den spielstärksten Mannschaften im ostdeutschen Staat.

Die Filmfabrik hat die Stürme der Novemberrevolution 1918/19 erlebt, blieb von der Inflation und der Weltwirtschaftskrise nicht verschont. Nach Hitlers Machtantritt sollten auch hier alle Juden entlassen werden. »Jüdische Unternehmer, Bankiers und Wissenschaftler haben eine herausragende Rolle bei der Gründung der AGFA und ihren Aufstieg zu einem Weltunternehmen gespielt.« Das zählte nun nicht mehr. Die Autoren berichten, wie sich der damalige Werksdirektor für die Bedrängten einsetzte, sich »menschlich anständig verhalten« hatte, was ihm später im Prozess gegen die I.G. Farben, unter deren Dach AGFA 1925 geschlüpft war, zu Gute kam. 1945 bis 1953 war Wolfen eine Sowjetische Aktiengesellschaft. 1964 wurde nach jahrelangem Streit mit der im Westen ansässigen AGFA das Warenzeichen ORWO eingeführt. Das Buch berichtet über Erfolge wie auch Schwierigkeiten zu DDR-Zeiten. Wie am 17. Juni 1953 entlud sich auch im Sommer/Herbst 1989 in Wolfen Volkes Unmut. Und dennoch gab es stets eine ganz spezielle Verbundenheit der hier Arbeitenden zu ihrer Arbeitsstätte, die mehr als das war, und zwar auch sozialer Ort – und gleichsam Familie.

Zum 1. Januar 1970 entstand das Fotochemische Kombinat Wolfen, mit deren Entflechtung 20 Jahre später die Modrow-Regierung begann. Die Zerschlagung übernahm die Treuhand. Hoffnungen der Belegschaft auf eine Fusion mit der westlichen AGFA waren geplatzt; die Münchener wollten nicht, freuten sich, den kleineren Bruder loszuwerden (auch das kommt in einer Familie vor). Mit Stilllegung und Abbau endet die ORWO-Geschichte.

»Die MDSE hat aus der Not eine Tugend gemacht. Das Unternehmen hat sich in den vergangen Jahren zu einem kompetenten Deponiebetreiber entwickelt und bereits mehrere ökologische Großprojekte in Sachsen-Anhalt erfolgreich abgeschlossen«, schreiben Karlsch und Wagner. MDSE ist das Kürzel für Mitteldeutsche Sanierungs- und Entsorgungsgesellschaft. Sie stehe, so die Autoren, für einen neuen »Bitterfelder Weg«. Mit der Entwicklung von Verfahren und Technologien zur Revitalisierung ehemaliger Industrielandschaften setze sie die Geschichte zukunftsträchtig fort.

Rainer Karlsch/Paul Werner Wagner: Die AGFA-ORWO-Story. Geschichte der Filmfabrik Wolfen und ihrer Nachfolger. Verlag für Berlin-Brandenburg. 240 S. geb.,19,90 €.

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