Lohnabstandsgebot – Anliegen, Rechtliches und Realität
Hartz-IV-Regelsätze
In der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen »Übersicht über das Sozialrecht« steht auf Seite 629: Mit dem Lohnabstandsgebot »...wird sichergestellt, dass zwischen dem von der Hilfe zum Lebensunterhalt gewährleisteten, notwendigen Lebensunterhalt und den unteren Arbeitnehmereinkommen ein ausreichender Abstand gewahrt ist, damit der Anreiz zur Wiederaufnahme oder zur weiteren Ausübung der Erwerbstätigkeit erhalten bleibt«.
Aus der Sicht des Sozialstaatsprinzips kann man ohne Übertreibung feststellen, dass das Lohnabstandsgebot zu den grundsätzlichen Maximen der gesellschaftlichen Wirkung sozialer Politik gehört. Das Gebot fand – rechtlich wegen seiner Bedeutung etwas stiefmütterlich behandelt – Eingang im § 28 Abs. 4 SGB XII - Sozialhilfe.
Es hätte wegen seiner besonderen sozialen Rolle in der Gesellschaft einen anderen Platz verdient, aber sei’s drum. Das Abstandsgebot ist richtig und wirksam, wenn es denn eingeordnet wird in das Gesamtgefüge arbeits- und sozialrechtlicher Maßnahmen der jeweiligen Bundesregierung.
Der § 28 Abs. 4 SGB XII regelt den Grundsatz, aber keinen festen Betrag, der zwischen der Sozialleistung plus Zusätzen (Unterkunft-, Heizung- und Sonderbedarfszahlungen) und den unteren Lohngruppen liegen soll. Das wäre ohnehin beschwerlich, weil der Abstand ja wegen der unterschiedlichen Höhe beider Kategorien variiert. Deshalb und wegen des notwenigen »ausreichenden Abstands« haben Fachexperten einen jeweiligen prozentualen Abstand von zehn Prozent als Orientierungsrichtung für real angesehen.
Aber dieser Mechanismus funktioniert im Lande nicht. Das liegt indes nicht am Lohnabstandsgebot, sondern daran, dass mit der Einführung und dem Ausbau des Niedriglohnsektors in ungeahntem Ausmaß der eine Teil des Gebotes, nämlich die Lohnseite, immer stärker in das Existenzminimum hineinragte. Der gewollte Abstand war nicht mehr einzuhalten, jedenfalls bei der Höhe der unteren Lohngruppen. Der Niedriglohnsektor liegt seit den Hartz-Reform-Gesetzen bei Löhnen zwischen 400 Euro und 800 Euro.
Der weitere Ausbau dieses Lohnniveaus durch steuerliche und sozialversicherungsrechtliche Vergünstigungen besonders für Arbeitgeber führte zu gewaltiger Zunahme von Arbeitnehmern im Niedriglohnsektor.
Es verwundert dann gar nicht mehr, dass Arbeitgeber nicht selten sehr geringe Löhne zahlten und zahlen, die zum Teil sogar sittenwidrig waren und sind.
Und so kam es ganz natürlich dazu, dass zunehmend Arbeitsangebote im Niedriglohnsektor von Arbeitslosen mit der Höhe ihrer Sozialleistungen verglichen wurden, womit dann manche keinen Arbeitsanreiz mehr verspürten. Der Abstand der Sozialleistungen zum angebotenem Lohn bestand gar nicht mehr oder war so gering, dass Langzeitarbeitslose mit etwas (illegaler) Schwarzarbeit selbst mit Einschränkungen, aber gesichert leben konnten.
Sicher muss man mit solchen Feststellungen vorsichtig umgehen, zumal eben nicht alle Hartz-IV-Empfänger über einen Kamm zu scheren sind. Aber der Anreiz, ohne Arbeit zumindest nicht entschieden schlechter zu leben als Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor, ist vorhanden, indes sollte das Lohnabstandsgebot gerade diesen Zustand verhindern.
Eine weitere Folge war und ist, dass durch die Ausweitung des Niedriglohnsektors der Personenkreis immer größer wurde, der selbst bei Vollzeitbeschäftigung nicht mehr in der Lage war und ist, den notwendigen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit zu sichern. Gegenwärtig gibt es ca. 6,5 Millionen Geringverdiener, davon müssen 1,3 Millionen staatliche Unterstützung, also Hartz-IV-Leistungen, erhalten. Diese »Aufstocker« kosten den Steuerzahler 9,3 Milliarden Euro jährlich.
Während die Bundesregierung mit der von Gewerkschaften und Sozialverbänden heftig kritisierten Neuberechnung des Regelsatzes und dem Lohnabstandsgebot die Hartz-IV-Leistungen niedrig hält, weil der Abstand zu den unteren Lohngruppen gewahrt sein muss(!), stützt sie notgedrungen andererseits mit Milliardensubventionen diese Konstruktion.
Die Kritiker dieser Spezifik bundesdeutscher Sozialpolitik führen gewichtige juristische Argumente an. Die Bundesregierung – so die Kritiker – beruft sich auf das gesetzliche Erfordernis, den Lohnabstand nach § 28 Abs. 4 SGB XII wahren zu müssen, deshalb könne sie u. a. keinen Cent mehr für die Regelsätze ausgeben, das aber sei verfassungswidrig.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in der Tat mit seiner Entscheidung vom 9. Februar 2010 (Az. 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09) den Anspruch der Bürger auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zum Grundrecht erklärt und eingefordert. Es ist Bestandteil des Artikel 1 Grundgesetz (Schutz der Menschenwürde), hat mithin Verfassungsrang und ist höherrangig als § 28 SGB XII.
Mit dieser richtigen juristischen Argumentation hätte man aber vor dem BverfG nur halbe Chancen, weil die Bundesregierung zudem die – ihrer Meinung nach – realistische Neuberechnung des Existenzminimums vorgenommen und als ausreichend angesehen hat.
Wie der Streit auch immer ausgehen mag, das Grundproblem wird dadurch nicht gelöst. Der Lohnabstand wird bei der jetzigen Lohnpolitik im Lande nicht haltbar sein, jedenfalls nicht mit dem Niedriglohnsektor. Ist dieses grundsätzliche soziale Problem überhaupt mit den angeführten rechtlichen Mitteln lösbar?
Es wird nicht möglich sein, weil das Grundübel nicht darin liegt, dass der Zwang zur Einhaltung des Lohnabstandsgebotes die Erhöhung der Regelsätze gesetzlich verbiete, sondern es liegt im desolaten Zustand des Niedriglohngefüges. Deshalb fordern Gewerkschaften und Parlamentsopposition berechtigt den flächendeckenden Mindestlohn. Darin liegt der gesellschaftlich wirksame Ausweg aus dem Dilemma. Nur über diesen Weg lässt sich das Lohnabstandsgebot und die menschenwürdige Erhöhung der Regelsätze realisieren. So werden – juristisch betrachtet – der § 28 Abs. 4 SGB XII und der Verfassungsgrundsatz rechtlich wirksam.
Bleibt man bei der gegenwärtig gegebenen einschlägigen Sozialpolitik wird sich die Lage ab Mai 2011 verschärfen, wenn für alle EU-Länder der freie Arbeitsmarkt geöffnet wird. Das Chaos wird noch eskalieren, indem auf Kosten der Geringverdiener noch mehr Dumpinglöhne gezahlt werden.
Der gegenwärtige gesetzliche und tarifliche Weg, in Deutschland zu Mindestlöhnen zu gelangen, ist langwierig und mit einem komplizierten Prozedere versehen. Zudem trifft er immer nur einzelne Berufsgruppen oder Gewerke, die vielleicht Hunderttausende Arbeitnehmer erfasst, es bleibt aber immer ein Flickenteppich. Dieser Weg löst das in Rede stehende soziale Problem dieses Landes nicht, so sehr der eingeführte Mindestlohn für die Betroffenen zu begrüßen ist.
Letztlich bleibt nur, wie in 20 der 27 EU-Länder schon längst existent, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Kein Land, auch nicht Großbritannien und Frankreich, sind daran sozial gescheitert. Die Effektivität künftiger Hartz-IV- und Lohnabstandsgebotsdebatten werden am flächendeckenden Mindestlohn nicht vorbeikommen.
Prof. Dr. JOACHIM MICHAS
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