»Wir bauen den Laden komplett um«

TRANSNET-Vorsitzender Alexander Kirchner über die Fusion zur neuen Verkehrsgewerkschaft und den Tarifstreit mit den Privatbahnen

  • Lesedauer: 7 Min.
Die Eisenbahnergewerkschaft Transport, Service, Netze (kurz: TRANSNET) ist mit knapp 220 000 Mitgliedern (Stand 31.12.2009) die fünftgrößte der acht DGB-Einzelgewerkschaften. Ihren Namen trägt sie seit Mai 2000. Sie ging aus der 1948 nach Ende des Naziregimes neu gegründeten Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED) hervor und wird zum 1. Dezember zusammen mit der Bahngewerkschaft GDBA in die neue Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) aufgehen. Alexander Kirchner ist seit 2008 TRANSNET-Vorsitzender. Der 1956 geborene Tarifexperte ist seit 1974 in der Gewerkschaft aktiv. Mit ihm sprach Jörg Meyer.
TRANSNET-Vorsitzender Alexander Kirchner am 26. Oktober beim Warnstreik der in Köln
TRANSNET-Vorsitzender Alexander Kirchner am 26. Oktober beim Warnstreik der in Köln

ND: Herr Kirchner, am Freitag wird es in den Auseinandersetzungen um einen Branchentarifvertrag für Eisenbahner erstmals ein Schlichtungsgespräch zwischen Gewerkschaften, den sechs großen Privatbahnunternehmen (G6) und der Deutschen Bahn AG geben. War der Warnstreik also erfolgreich?
Kirchner: Ich hoffe, dass die Arbeitgeber das Signal verstanden haben. Wir hatten ja noch vor Warnstreik und Schlichtung weitere Gespräche angeboten, wenn zwei Bedingungen erfüllt werden. Erstens geht es nicht unbedingt um ein neues, konkret bezifferbares Angebot seitens der Arbeitgeber, sondern um die grundsätzliche Frage, wie Wettbewerb gestaltet werden kann, ohne ihn auf dem Rücken der Beschäftigten auszutragen. Und zweitens geht das nur gemeinsam mit den Privaten und Deutscher Bahn AG.

Vorige Woche war die Situation wie ein gordischer Knoten: Beide Arbeitgeberlager hatten ihr Verhandlungsangebot vom Verhalten des jeweils anderen abhängig gemacht. Und miteinander reden wollten sie nicht. Wir mussten diesen Knoten auflösen. Das ist uns anscheinend mit dem Warnstreik gelungen.

Worum wird es in der Schlichtung gehen?
Es gab vor den Verhandlungen einen Grundkonsens zwischen beiden Seiten: Wir werden mit dem Branchentarifvertrag sicherstellen, dass bei zukünftigen Ausschreibungen die Personalkosten nicht mehr relevant sein werden. In den Verhandlungen haben die G6 aber ganz anders gesprochen. Dieser Punkt muss als erstes geklärt werden. Als nächstes geht es darum, welches Niveau der Branchentarifvertrag hat. 90 Prozent der Beschäftigten befinden sich heute auf einem fast gleichen Tarifniveau. Das wollen wir insgesamt erreichen – also auch für die zehn Prozent, die heute noch darunter liegen.

Der Branchentarifvertrag weist auch in die Zukunft?
Ja. Die Bahn hat schon 15 Töchter gebildet und mit denen eine ganze Reihe Ausschreibungen gewonnen – ohne Tarifbindung. Nach unserer Schätzung sind davon etwa 3300 Beschäftigte betroffen. Die Unternehmen, die mit uns den Vertrag abschließen, müssen sich verpflichten, auch zukünftig nicht über Tochtergesellschaften anzubieten. Bestandteil unseres Konzeptes ist aber auch, eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung zu bekommen, die sicherstellt, dass der Tarifvertrag auch für die gilt, die nicht tarifgebunden sind.

Was passiert in der gleichzeitig laufenden Entgelttarifrunde?
Wir haben eine Gesamtforderung von sechs Prozent. Enthalten sind eine ganze Reihe von Detailforderungen, die zusammengenommen weit darüber hinausgehen. Wir sprechen mit der Bahn AG seit August und haben einen Verhandlungsstand, bei dem es gelingen würde, einen Großteil der Forderungen zu regeln. Aber wir wollen in der Einkommensrunde erst etwas vereinbaren, wenn wir wissen, dass wir den Branchentarifvertrag bekommen.

Haben Sie Zeitdruck?
Wir haben über zwei Jahre gebraucht, um in den Zustand zu kommen, diesen Druck aufbauen zu können. Dafür haben wir systematisch alle Tarifverträge gekündigt und keine neuen mehr abgeschlossen. Wenn wir jetzt wieder Einkommensabschlüsse machen und uns auf ein Jahr oder länger binden, brauchen wir mindestens zwei Jahre, um wieder diese Chancen zu haben. Bis dahin gibt es noch so viele große Ausschreibungen, dass wir tatsächlich glauben, die Zeit spielt gegen uns.

Also neue Warnstreiks, wenn es am Freitag keine Ergebnisse gibt?
Das ist möglich. Das heißt aber nicht, dass wir schon Ort und Zeit für den nächsten Streik festgelegt haben. Sollte sich zeigen, dass die Arbeitgeber am Freitag aus einem konstruktiven Prozess aussteigen, bleibt uns nichts anderes übrig, als den Druck wieder zu erhöhen.

Wieso macht die Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) nicht mit? Die verhandelt derzeit um einen Branchentarifvertrag für Lokführer.
Wir bedauern zutiefst, dass sie mit uns nicht an einem Strang zieht. Seit Jahren versuchen wir eine Klarheit darin zu bekommen, wie man miteinander umgeht. Im Kern geht es um die Frage, welches Gewerkschaftsmodell sich in Deutschland langfristig durchsetzt. Die Kollegen der GDBA haben sich im Jahr 2003 auf den Weg gemacht, mit uns gemeinsam die Tarifverhandlungen zu führen, andere Politikfelder gemeinsam zu gestalten. Die Gründung einer neuen Gewerkschaft durch Verschmelzung unserer Organisationen ist die logische Folge dieses Prozesses. Sie können nicht alle möglichen Themen gemeinsam beackern und dann in den Betrieben als Konkurrenten gegeneinander auftreten. Die GDL hat sich dafür entschieden, eigenständig zu bleiben. Sie will insbesondere das Modell der berufsständischen Gewerkschaften nach vorne bringen. Deshalb versucht sie natürlich, das in Abgrenzung und Konflikt zu tun. Es geht hier mehr um Organisationspolitik als um Tarifpolitik. Wir halten das für falsch. Ich glaube, gemeinsam hätten wir den Branchentarifvertrag auch schon erkämpft.

Wieso kam der Kampf um den Branchentarifvertrag nicht früher? Die Folgen der Bahnprivatisierung konnte man doch vorhersehen.
Das waren auch Lernprozesse. Als die Bahnreform 1993 kam, wurde uns gesagt: »Es wird keinem Eisenbahner schlechter gehen.« Seit Ende der 90er Jahre haben wir Wettbewerb. Die Ausschreibungen von Strecken gab es ja vorher nicht. Unsere Philosophie und auch die der GDL war zu sagen, wenn da neue Unternehmen sind, werden wir die erst mal beackern, Mitglieder werben und zusehen, dass wir Tarifverträge abschließen. Es gab aber immer weniger Spielraum, etwas nach oben zu verhandeln. Wir haben 2005 erstmals versucht, einen Branchentarifvertrag zu vereinbaren. Das ist an der Weigerung eines privaten Bahnarbeitgeberverbandes gescheitert. Dann blieb uns nichts anderes übrig, als uns über die Kündigung der Tarifverträge in die Situation zu bringen, in der wir jetzt sind.

Dazu kommt, dass die Politik ihre Möglichkeiten nicht ausnutzt. Es gab ein bundeseinheitliches Tariftreuegesetz, das ist gekippt worden. Dann haben die Länder Tariftreuegesetze gemacht, die wieder kassiert worden sind, weil man der Meinung war, sie seien nicht EU-kompatibel. Es gibt aber auch eine EU-Verordnung von 2007, die ermöglicht, eine Tarifbindung auf dem Niveau bestehender Tarifverträge vorzugeben. Auch das macht die Politik nicht, deshalb sagen wir jetzt: Es geht nur über eigene Gestaltung. Unsere Einschätzung hat sich also geändert.

Was wird sich mit der neuen Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) ändern, die am 1. Dezember ihre Arbeit aufnimmt?
Wir bauen den Laden komplett um. Wir werden versuchen, mit neuen Strukturen möglichst nah an das einzelne Mitglied heranzukommen und auch die Entscheidungsprozesse mitgliedernah gestalten. Ziel ist: in jedem Betrieb eine Betriebsgruppe. Auf der administrativen Ebene werden wir dagegen verschlanken. Es ist aber mit den Betriebsräten von TRANSNET und GDBA vereinbart, dass es keine betriebsbedingten Kündigungen aufgrund dieses Prozesses geben wird.

Zu Stuttgart 21 gab es bislang keine Position der TRANSNET ...
Ich habe mit vielen Kolleginnen und Kollegen diskutiert, die dafür oder dagegen sind – beides aus guten Gründen. Unser Job als Gewerkschaft ist, die Interessen unserer Mitglieder bei so einem Vorhaben zu wahren. Während der letzten Jahre haben wir immer wieder Position zu Stuttgart 21 bezogen. Das ging von sehr kritischer Diskussion bis zu konstruktiver Mitarbeit. Wir haben dafür zu sorgen, dass keine Arbeitsplätze verloren gehen. Man kann sich schnell mit der einen oder anderen Fahne in die Reihen der Demonstranten einordnen, aber meines Erachtens wäre das zu einfach.

Sie haben vor zwei Jahren Norbert Hansen als TRANSNET-Vorsitzenden abgelöst, der durch seinen Wechsel zur Bahn AG für großen Streit in der Gewerkschaft gesorgt hat. Wie ist die Stimmung heute? Haben Sie Ihre Ziele erreicht?
Die TRANSNET ist heute eine andere als vor zwei Jahren. Wir sind beispielsweise früher stark daran gemessen worden, wie wir zum Börsengang der Bahn stehen. Heute spielt das nicht mehr die Rolle, weil wir gesagt haben, es ist nicht unser Job, uns für oder gegen den Börsengang zu entscheiden. Unser Job ist es, für die Arbeitsplätze zu kämpfen und für das System Schiene einzutreten. Das Motto unseres letzten Kongresses war »Vom Mitglied aus denken – für das Mitglied handeln«. Diese neue Philosophie rückt immer stärker in den Fokus unserer Arbeit.

Um eine Position zum Börsengang der Deutschen Bahn AG kommen Sie aber so nicht herum …
Das wollen wir auch gar nicht. Abgesehen davon, dass das zur Zeit nicht ansteht, weil der Kapitalmarkt das nicht hergibt. Es geht um die Frage, wer über die Position entscheidet, und das sind bei uns die Mitglieder. Das war der Fehler in der Vergangenheit, sich die Argumente der Politik zu eigen zu machen und dann dafür oder dagegen zu sein. Wir lassen uns nicht mehr von Parteien oder der Bahn AG oder wem auch immer sagen, was wir zu vertreten haben. Die Mitglieder müssen ihre Position zum Thema finden und die werden wir dann vertreten.

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