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Prothesen für das Gehirn
Investoren lieben Hirn-Chips über medizinische Zwecke hinaus, Experten sind skeptisch
Ende Juli wurde erstmals einem Menschen ein aus Deutschland stammender Gehirnchip implantiert. Diese Gehirn-Computer-Schnittstelle (englisch Brain-Computer-Interface, BCI) wurde im Rahmen einer klinischen Studie mit Schlaganfallpatienten in Seattle (USA) eingesetzt. Die Studie soll zeigen, ob eine gezielte elektrische Stimulation der Großhirnrinde helfen kann, die zuvor durch einen Schlaganfall verlorenen Fähigkeiten für die motorische Steuerung neu zu erlernen. Bisher werden die Folgen eines Schlaganfalls mit klassischer Physiotherapie behandelt. Das reicht nicht immer aus, um die Funktion gelähmter Gliedmaßen zurückzugewinnen.
Wäre die Studie erfolgreich, könnte das nicht nur für die Rehabilitation nach einem Schlaganfall ein Fortschritt sein. Denn mit dem Hersteller wäre erstmals ein deutsches Unternehmen in die kleine Riege von Firmen und Forschungseinrichtungen aufgestiegen, die sich überhaupt dem Thema widmen und bereits Chips zu medizinischen Zwecken eingesetzt haben.
Zu den Anwendungsmöglichkeiten zählt die Behandlung von Schlaganfällen sowie von weiteren neurologischen Erkrankungen.
Der deutsche Hersteller stammt aus Freiburg: Die Cortec GmbH entwickelte eine vollständig implantierbare drahtlose BCI. Sie zeichnet kontinuierlich die Gehirnaktivität auf und gibt elektrische Impulse ab, die eine angepasste Stimulation von Nervengewebe ermöglichen. Während der Physiotherapie kommuniziert das Implantat mit dem Laborcomputer. Auf diese Weise könnte die neurologische Therapie einen weiteren Schritt zu einer präzisen, personalisierten Medizin machen, so die Hoffnung des Unternehmens.
Die Besonderheit des Cortec-Produkts ist nicht nur die Signalübertragung in zwei Richtungen, also aus dem Gehirn heraus und dorthin wieder zurück. Der elektrische Kontakt erfolgt nicht über einzelne Nervenzellen wie bei bisherigen Modellen, sondern über eine Kontaktmatte mit 32 Kanälen, die unter der Schädeldecke, aber auf dem Gehirn, eingesetzt wird. Jeder Kontakt kann gleichzeitig 100 000 Nervenzellen stimulieren und deren elektrische Aktivität erfassen.
Nun werden BCI schon seit 2004 implantiert. Anfangs war die Idee, durch Gedanken allein eine Gerätesteuerung zu ermöglichen. So könnten sich Gelähmte, die das Sprechvermögen verloren haben, wieder verständlich machen. Obwohl das nun schon mehr als 20 Jahre her ist, lassen sich die Pioniere dieser Technik noch immer an den Fingern abzählen. Zu den beabsichtigten Anwendungsmöglichkeiten zählt neben der Schlaganfallbehandlung die Therapie weiterer neurologischer Erkrankungen, darunter von Parkinson oder der Amyothrophen Lateralsklerose (ALS), einer irreversiblen Schädigung motorischer Nervenzellen.
Die Pionierarbeit 2004 wurde von Braingate geleistet. Das Unternehmen konnte für die erste implantierte BCI für Menschen auf Forschungsarbeiten aus den späten 1990 Jahren aufbauen. Das heute aktuelle Gerät des akademischen Konsortiums wird wiederum von Blackrock hergestellt. Diese Gründung aus dem US-Bundesstaat Utah von 2008 mit dem vollständigen Namen Blackrock Neurotech hat nichts mit dem bekannten Vermögensverwalter zu tun. Zu den Wagniskapitalgebern gehörte unter anderem der Milliardär Peter Thiel. Bis 2024 wurde weltweit etwa 50 Menschen ein BCI eingesetzt, 40 davon kamen von Blackrock. Einige Patienten erlernten damit das Autofahren neu, andere gewannen ihren Tastsinn zurück.
Wie langfristig bei diesen Geräten gedacht werden muss, zeigt eine klinische Studie, die Braingate 2009 startete und die 2038 abgeschlossen sein soll. Hier haben bislang 15 querschnittsgelähmte Personen einen Chip erhalten. Die bislang kleinsten BCI entwickelte das in Brooklyn ansässige Unternehmen Synchron. Es wurde in Blutgefäße am Kopf minimalinvasiv eingesetzt, und zwar in der Nähe des motorischen Kortex. Eine weitere technische Komponente im Brustkorb soll die Signale aus dem Gehirn dann drahtlos an einen Computer übertragen. Finanzielle Unterstützung kam hier 2024 von Jeff Bezos und Bill Gates.
Weitere Unternehmen sind Paradromics oder Precision Neuroscience, beide ebenfalls in den USA ansässig. Auch Universitäten sind an der Entwicklung von BCI-Prototypen beteiligt, darunter in Europa die Uni Lausanne in der Schweiz.
Genannt werden muss bei diesem Thema Neuralink, ein weiteres Projekt aus dem Portfolio von Elon Musk. Dieser verkündete Anfang 2024 auf X, das weitergesteckte Ziel mit den Chips sei, »alle unserer Telefone und Computer mit unseren Gedanken« zu steuern. Zuvor sollte gelähmten Menschen geholfen werden. Für diese Firma sammelt Musk in diesem Jahr noch einmal über eine halbe Milliarde Dollar frisches Geld ein. Eingesetzt wurde das Neuralink-Implantat bisher fünf Menschen, unter anderem einem ersten ALS-Patienten. Tech-Milliardär Musk hatte das Produkt allerdings schon 2019 gewohnt vollmundig als Schnittstelle für die Symbiose mit künstlicher Intelligenz angekündigt. Bis 2031 sollten jährlich 20 000 Chips implantiert sein, ein Jahresumsatz von mindestens einer Milliarde US-Dollar wurde versprochen. Offenbar wurde Musk die Vision abgenommen: Die Finanzagentur Bloomberg sprach Neuralink jetzt einen Wert von 8,5 Milliarden Dollar zu.
Bei Experten überwiegt die Skepsis, unter anderem wegen der Komplexität des menschlichen Gehirns. Die Funktionsweise ist noch nicht vollständig verstanden, darunter auch nicht die Regeln der Neuroplastizität. Damit gemeint ist die Reorganisation des Gehirns nach Teilausfällen durch Unfall oder Krankheit. Im Fall Neuralink kommt in Bezug auf bisherige Erfolge hinzu, dass sie zwar zu Marketingzwecken publiziert, nicht aber durch unabhängige Wissenschaftler bestätigt wurden.
Weitere Hindernisse für den Fortschritt der Technologie liegen in den Eingriffen an sich. Je tiefer Elektroden in das Gehirn eingesetzt werden, um so größer sind die Risiken – sowohl für die Operation als auch für den Dauerbetrieb. Letzterer muss über Laborbedingungen hinaus im Alltag praktikabel sein. Wie schwierig das schon mit etablierter Technik sein kann, wissen Menschen mit künstlichen Darmausgängen, Herzschrittmachern, Prothesen und transplantierten Organen sehr genau.
Selbst wenn also nicht alle Blütenträume so schnell wahr werden: Allein eine deutlich verbesserte Therapie von Schlaganfällen würde zumindest einem Teil von jenen 1,7 Millionen Menschen nutzen, die allein in den USA und Europa mit den Folgen eines solchen Ereignisses klarkommen müssen.
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