Inszenierter Bürgerkrieg in Ostberlin

Video zur Räumung der Mainzer Straße erschienen

  • Peter Nowak
  • Lesedauer: 3 Min.

»Sie kommen/Hörst du sie schon/ Keine Todesschwadron/Nur eine Räumungsaktion« – so lautet die letzte Strophe des Songs »Mainzer Straße«, den die Rostocker Punkrock-Band »Dritte Wahl« 1992 veröffentlichte. Damals war die Erinnerung an den zweitgrößten Polizeieinsatz der Nachkriegszeit, mit dem am 14. November 1990 13 besetzte Häuser in der Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain geräumt wurden, noch frisch. Eine Fülle von Filmen und Ausstellungen sind unmittelbar danach entstanden. Doch 20 Jahre später gibt es in der politischen Linken kaum Spuren der Erinnerung. Nur das 40-minütige Video »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag – die Mainzer Straße wird geräumt!« der ehemaligen Hausbesetzerin und Filmemacherin Kathrin Rothe erinnert an die bewegten Tage. Doch anders als bei den ersten Filmen gibt es dort nur wenig Originalmaterial.

In der Dokumentation werden sechs Personen befragt, die in die Ereignisse des November 1990 involviert waren. Dazu gehörte Arne Seidel, der als damaliger Bezirksverordneter des Neuen Forums in Berlin-Lichtenberg von der Polizei durch die geräumten Häuser geführt wurde, obwohl er selbst Hausbesetzer in der Pfarrstraße war. Seidel gehörte zu den DDR-Oppositionellen, die in den leerstehenden Häusern Ostberlins Kneipen eröffneten und Wohnungen besetzten. Osswaldt Buss lebte als Student in Westberlin und sah in den Altbauten im Osten der Stadt ein großes Experimentierfeld für ein anderes Leben. Er hat ein Haus in der Jessener Straße besetzt, in der er noch heute lebt. Buss hat mit der Räumung der Mainzer Straße nach eigenen Aussagen seinen Pazifismus begraben. Bastian Krondorfer, der heute als Wissenschaftler in der Aids-Forschung tätig ist, lebte als einziger Interviewpartner in der Mainzer Straße und baute dort mit anderen Westberliner Schwulen das sogenannte Tuntenhaus auf.

Ein martialisches Polizeiaufgebot

Krondorfer ist der Einzige, der offen ausspricht, dass die Räumung bei vielen Besetzern Spuren hinterlassen hat. Das martialische Aufgebot der Polizei ließ viele Aktivisten resignieren. Ihr politischer Rückzug war oft mit persönlichen Krisen verbunden. Mit dieser als Bürgerkrieg inszenierten Räumung sollte der bis dahin starken Ostberliner Besetzerbewegung das Rückgrat gebrochen werden. Buss erinnert sich, dass die Bewohner der umliegenden Häuser aus Angst, als nächste geräumt zu werden, Pacht- und Mietverträge mit oft schlechten Bedingungen abschlossen hatten.

Die DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley wollte die Räumung verhindern. Im Interview, wenige Monate vor ihren Tod, kann sie noch immer nicht verstehen, dass Polizisten aus der BRD nach Ostberlin kamen, um junge Leute aus den von ihnen besetzten Häusern zu vertreiben. Wenn sie von den Freiräumen der Wiedervereinigung spricht, die dadurch verloren gegangen seien, irrt sie. Während in der DDR Wohnungsbesetzungen durchaus nicht ungewöhnlich waren, wurde mit der Räumungsaktion nur fünf Wochen nach der Wiedervereinigung demonstriert, dass solche Verstöße gegen die Ordnung des kapitalistischen Eigentums künftig nicht mehr geduldet werden. Es war ein Signal nicht nur an die Hausbesetzer in der angeschlossenen DDR.

Die Dokumentation »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag – die Mainzer Straße wird geräumt!« kann unter www.goodmovies.de bestellt werden.

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