Werbung
  • Kultur
  • Bücher zum Verschenken

Schlüssel des Glücks

»Feigen in Detroit« – Alicia Yunis erzählt eine Familiengeschichte

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 4 Min.

Manche Menschen erzählen Geschichten, andere, wie Ibrahim, hüten sie«, sagt Scheherazade zu Fatima und: »Wenn du dein Leben so lebst, dass es von Geschichten erfüllt ist, verbringst du das Warten auf den Tod auf die bestmögliche Weise ...« 991 Tage und Nächte hat Scheherazade Zeit gehabt, der 85-jährigen Fatima Geschichten aus deren libanesischer Heimat zu entlocken – von dem Großvater, dem Hühnerbauern, dem Haus und dem nach Jasmin duftenden Garten. Aber damit will sich die Prinzessin nicht zufrieden geben. Das alles liegt ja so lange zurück. Scheherazade möchte spannende Geschichten aus Fatimas Leben in Amerika hören – 68 Jahre ist sie hier schließlich schon – spannende Geschichten von ihren beiden Ehemännern Marwan und Ibrahim zum Beispiel.

Es ist leicht zu erraten: Wir haben es mit einer »umgekehrten Scheherazade« zu tun, hier erzählt Fatima, und Scheherazade hört zu. Also bleiben Fatima genau zehn Nächte, um der orientalischen Prinzessin und uns, den Lesern, die Geschichten von ihren Ehemännern, Kindern und Enkeln zu erzählen. Gewiss: Das wird zeitlich eng, denn die Kinder leben längst, über das ganze Land verstreut, ihre sehr unterschiedlichen Leben mit tausend und einem Problem. Aber die Autorin hat ja einen ganzen Roman zur Verfügung, um einen Erzählteppich auszurollen und uns die Besonderheiten einer sehr normalen libanesisch-amerikanischen Einwandererfamilie zu schildern.

Alia Yunis ist amerikanisch-libanesische Schriftstellerin, Journalistin, Filmemacherin und Dozentin. Erführen wir das nicht, dann könnten wir sie glattweg für eine moderne Scheherazade halten. Sie verzaubert uns mit ihrer magischen Erzählkunst, dem Verknüpfen und Verflechten von tausend Geschichten. Sie fügt Werte, Träume, Ängste, Altes, Modernes und Skurriles inein-ander. Sie schwebt mit ihren Figuren durch Raum und Zeit, um sie dann wieder etwas unsanft auf dem Boden der Tatsachen abzusetzen: im Heimatdorf Fatimas im Libanon zum Beispiel, wo das Haus mit den Zedernholztruhen und den Feigenbäumen im Garten längst vom Krieg zerstört worden ist, oder in Amirs Haus in Los Angeles mit den Chrommöbeln, in das Fatima von ihrem Lieblingsenkel aus Detroit nach dem 11. September 2001 geholt worden ist. Schließlich konnte man nicht wissen, »wie die USA sich an der arabischen Welt rächen würden«.

Seit 991 Nächten lebt Fatima hier, und seitdem kommt die schöne Prinzessin mit ihren bunten orientalischen Kleidern her, klimpert mit den Armreifen, klettert leichtfüßig aufs Fenstersims, legt Fatima auch mal Brille und Hörgerät zurecht, hilft ihr, in der alten Truhe und in Familiengeschichten zu kramen und erfährt nun doch fast alles, was sie wissen will, Geschichten von gelungenen und misslungenen Berufsvorstellungen, von Ehen und Beziehungen, von vereitelten und geglückten Lebensentwürfen, von Problemen mit Alkohol und Krebs. Unter den Sprösslingen Fatimas gibt es alles – die Wunderheilerin, die Ärztin, die linke Professorin, den modernen Heiratsvermittler (eine Familientradition übrigens) und den Möchtegern-Schauspieler. Der ist Fatimas Liebling, »Wunderenkel«, Ergebnis einer künstlichen Befruchtung. Fatima nennt das »Unbefleckte Empfängnis«. Und dann soll auch noch Ibrahim erwähnt werden, der, nun in Detroit allein, jede Woche mit dem Bus zum Flughafen fährt, um in der Fantasie in den Libanon zurückzukehren.

In der 1001. Nacht kommen alle Familienmitglieder wie zufällig – aber es gibt hier natürlich keinen Zufall – zusammen zu einem Fest. Ist Fatimas Leben nun »auserzählt«? Aber nein! Es geht ja alles weiter. Die 17-jährige Urenkelin Dezimal ist schwanger, und im Garten trägt der Baum, der aus Libanon über Detroit bis hierher verpflanzt worden ist, zum ersten Mal Blüten und eine grüne Feige. Und der Schlüssel zum Haus im Libanon, den Fatima vergeblich sucht? Den hätten wir fast vergessen. Er hat sich in Ibrahims Tasche gefunden, als er bei der Fahrt zum Flughafen gestorben ist.

Alia Yunis: Feigen in Detroit. Roman. A. d. Am. v. Nadine Püschel u. Max Stadler. Aufbau Verlag. 473 S., geb., 19,95 €

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal