Vorhang zu und alle Fragen offen

Ersatzlos entfallen: Dietmar Daths Theaterstück »Annika« wird heute nicht in der DT Box uraufgeführt

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Pressemitteilung, die wir am Dienstag vom Deutschen Theater Berlin erhielten, unterrichtet uns von einem an deutschen Bühnen äußerst seltenen und nicht allein deshalb unerhörten Vorgang: Wegen »künstlerischer Differenzen«, wie es auf Nachfrage heißt, ist drei Tage vor der geplanten und lange angekündigten Uraufführung ein Stück vom Spielplan genommen worden – nicht verschoben, sondern »ersatzlos entfallen«.

Wie bitte? Künstlerische Differenzen? Welcher Art müssen die denn sein, dass daran im Alles-geht-Zeitalter eine Premiere scheitern kann?

Persönliche Differenzen entfachen sich meist an gegensätzlichen Interessen und Eitelkeiten, politische überdies an unterschiedlichen Auffassungen über die Veränderbarkeit der Welt, die ist. Der Gegenstand, an dem künstlerische Differenzen sich zu offenbaren pflegen, ist aber das Werk; in diesem Fall das erste originäre Theaterstück des Romanautors, Essayisten und Feuilletonisten Dietmar Dath, ein für die Kammerbühne geschriebenes »Spiel für fünf Menschen« mit dem Titel »Annika oder Wir sind nichts«.

Aufgeführt werden sollte das Stück, das einen Konflikt um Arbeitsplätze aus der unmittelbaren Gegenwart in die fantastische Umgebung einer nahen Zukunft verlegt, an der Experimentierbühne des Deutschen Theaters, der DT Box. Die Regie übernahm der 33-jährige Kevin Rittberger, der dort bereits Dietmar Daths 2008 für den Deutschen Buchpreis nominierten Science-Fiction-Roman »Die Abschaffung der Arten« adaptiert hatte. Trotz der szenarischen, personellen und reflexiven Üppigkeit der Vorlage war Rittberger und seinem Ensemble das recht überzeugend gelungen. Woran, fragt sich, ist es dann jetzt gescheitert?

»In der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Stück konnten Ensemble und Regie nicht an einen vertretbaren Punkt für die Umsetzung auf der Bühne gelangen«, heißt es in der Pressemitteilung. Vertretbar wem gegenüber? Dem Publikum? Das ist doch trashgeschult und hartgesotten. Dem Autor gegenüber? Der gibt doch die Deutungshoheit notgedrungen am Bühneneingang ab und muss leben mit dem, was in den Kulissen aus seinem Kinde geformt wird. Gegenüber dem ästhetischen Anspruch des Theaterpersonals? Das Stück will ich sehen, das Dramaturgen, Regisseure, Schauspieler an sich selbst und aneinander verzweifeln lässt.

Es wird aber nicht zu sehen sein. Nicht hier zumindest, nicht heute.

Künstlerische Differenzen, wie gesagt, entstehen durch Reibung am Werk. Was für ein Stück ist »Annika«?

Das Manuskript verlegt den Ort der Handlung in eine »gefährdete Niederlassung einer Weltfirma (unter Wasser, in Küstennähe)«. In dieser Glocke, abgeschottet von der irdischen Welt, in der menschliches Leben gemeinhin stattfindet, produzieren vier Personen ein ominöses Ding, dessen technische Tücken ihnen zu schaffen machen, über dessen Funktionsweise und Zweck sie aber offenkundig nicht informiert sind. Der dramatische Konflikt, der diese mehr oder weniger freiwillig in den Lebensmittelpunkt der Protagonisten gerückte Zwangsgemeinschaft heimsucht, kommt in Gestalt einer fünften Person ins »Spiel«: Ein Herr von der Geschäftsleitung sucht die Glocke auf, um die Abwicklung von Änderungskündigungen voranzutreiben, an deren Ende einer über Bord gehen soll. Perfiderweise muss die Belegschaft selbst entscheiden, wer seinen Unterwasserarbeitsplatz verliert.

Im Prozess dieser Entscheidungsfindung schält sich die Haltung der Einzelnen gegenüber der Gruppe heraus. Der ehemalige Hausbesetzer und Anarchist (wie sich zeigt: Sohn reicher Eltern) ist viel zu beschäftigt mit Selbstbefriedigung und viel zu gefestigt in seiner Gewissheit »Das ganze System ist Scheiße«, als dass er anders denn spöttisch reagieren könnte. Die eloquente Schriftstellerin (wie sich herausstellt: entfremdete Tochter des Chefs) ist zu den waghalsigsten Volten fähig im Denken und Formulieren, im Handeln aber orientiert sie sich ausschließlich an der eigenen Wortwohligkeit. Die einstige Gewerkschafterin (und, wie sich enthüllt: Bettgefährtin des Anarchisten) will zunächst um »ein paar von den Klauseln« verhandeln, findet dann aber eine Feindin, die es wegen ihrer vermeintlichen Machtsucht und anmaßenden Rechthaberei verdient, abgestoßen zu werden. Das ist Annika, deren einfache Antwort auf die Frage nach dem überflüssigen Kollegen heißt: »Niemand geht.«

Am Ende muss Annika gehen – einstimmiger Beschluss. Als sie aber fortschwimmt von dieser seltsamen Gruppe, flutet Nadine, die Künstlerin, die Glocke. Keine Aussicht auf Entkommen, der Tod durch Ertrinken ist unentrinnbar. Einzig Annika, deren schlichte Schönheit die Dichterin nicht nur heimlich, sondern sogar unheimlich liebt, überlebt. Letzter Satz (Nadine): »Wisst ihr, das ist das einzige, was ich für mich wollte: Annikas Aufmerksamkeit.«

Der Widerspruch, den Dietmar Dath mit seiner Parabel in dramatische Form bringt, ist jener zwischen individuellen und gemeinschaftlichen Interessen. Dass Menschsein bedeuten könnte, Eigensinn und Gemeinnutz miteinander zu vermitteln, diese Haltung verkörpert die Titelheldin. Kein Mensch kann ohne andere sein, aber gleichzeitig sind alle zusammen immer eine Summe aus lauter Einzelnen. Auf welchen Begriff man diese Haltung bringt, ob man sie Liebe nennt oder Kommunismus oder wieder ganz anders, das ist für die Interpretation dieses Stückes gar nicht so wichtig. Wichtiger ist eine Aussage des Autors, die man nicht erst in seinen anderen Schriften nachlesen muss, um sie durch dieses »Spiel« zu begreifen: Das »Richtige« nur zu denken und zu formulieren, genügt nicht. Es geht darum, richtig zu handeln.

Was das sein soll, richtiges Handeln, ob es das überhaupt gibt, und falls es das gibt, ob es dazu statt einer intuitiven oder vernünftigen Legitimation nicht einer demokratischen bedarf, ob Annikas Beharren auf dem »Wir« nicht vielleicht doch in Wirklichkeit egoistisch und diktatorisch ist, wie die anderen meinen, ob wir vielleicht doch naturwüchsigen Kräften ausgeliefert sind, an denen menschliches Tun wenig ändern kann – darüber können Theaterleute verschiedener Meinung sein und das auch öffentlich zum Ausdruck bringen. Aber die angekündigte Umsetzung einer einmal akzeptierten Stückvorlage – aus welchen Gründen auch immer – sang- und klanglos scheitern zu lassen, das ist die schlechteste aller möglichen Verhaltensweisen gegenüber dem Stück, seinem Autor und gegenüber dem Publikum, das nun keines sein darf. Eine kaum zu vertretende Entscheidung.

Nie war die Rede davon, dass Dietmar Daths Manuskript dramaturgischen Ansprüchen nicht genüge oder aus anderen ästhetischen Gründen nicht spielbar sei, und das ist auch nicht wahr. »Annika« ist ein in seiner sparsamen Fantastik und strukturellen Einfachheit herausfordernder Text, der viele Spielräume in seiner Bühnenausdeutung lässt.

Dass man den politischen Denker Dietmar Dath als Leninisten, Marxisten, Kommunisten wahlweise vergöttern oder verteufeln kann, haben Meinungsmacher verschiedentlich unter Beweis gestellt. Dass man ein Werk des als faszinierend, streitbar, gefährlich, jedenfalls aber als ernst zu nehmend anerkannten Künstlers Dietmar Dath nicht zur Diskussion stellt, sondern einfach unter den Tisch fallen lässt, das hat es noch nicht gegeben.

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