Andrang vor verbotenen Büchern im »El Kitab«

Tunesien trauert um Aufstandsopfer / Diskussion um Zahl der Toten

  • Claudia Altmann, Tunis
  • Lesedauer: 3 Min.
Mit einer dreitägigen Staatstrauer für die zahlreichen Opfer des Volksaufstands will Tunesien einen Schlussstrich unter die blutigen Unruhen ziehen. In Kürze sollen Schulen und Universitäten wieder öffnen. Die Bevölkerung wartet auf die Erfüllung weiterer Forderungen.

Vor dem Panzer am Denkmal des muslimischen Theoretikers Ibn Khaldun im Tuniser Zentrum wird eine hitzige Debatte geführt. Aufmerksam verfolgen die Soldaten und Dutzende Umstehende die Diskussion um die wahre Zahl der Todesopfer des tunesischen Aufstands. Auch Soldaten waren in den vergangenen Tagen bei Schießereien mit Ben-Ali-Milizen getötet worden. Die Behörden sprechen von 78 toten Zivilisten. Nach Informationen von Menschenrechtsgruppen sind es mehr als 100.

Die Übergangsregierung hat unterdessen seit gestern eine dreitägige Staatstrauer angeordnet. Überall im Land sind die Flaggen auf Halbmast. Der Rundfunk strahlt statt des üblichen Programms Rezitationen von Koranversen aus. Vor allem der Name von Mohamed Bouazizi ist in aller Munde. Der arbeitslose Akademiker, der mit seiner Selbstverbrennung Mitte Dezember in seiner Heimatstadt Sidi Bouzid Auslöser der Erhebung war, ist zum Symbol der Volksbewegung geworden.

Auch die beim Freitagsgebet in der Tuniser Moschee Al-Fatah versammelten Gläubigen erweisen dem Märtyrer ihre Ehre. Wie stets fasst das Gotteshaus nicht den Ansturm der Muslime an diesem Tag, so dass die auch die umliegenden Straßen einnehmen. Nach Ende des gemeinsamen Gebets schließen sich viele einem spontanen Marsch an, an dessen Spitze ein Plakat mit dem Bild des Volkshelden und der Aufschrift »Bouazizi ist unser wahrer Präsident« getragen wird. Sie laufen zum nahe gelegenen Stadtzentrum, wo sich erneut unzählige Menschen zu Protesten gegen die ehemalige Regierungspartei RCD zusammengefunden haben.

Mit Islamisten indes wollen die meisten Gläubigen nichts zu tun haben. »Ich will keine islamistische Partei hier haben«, sagt ein Muslim um die 50. »Tunesien ist ein laizistisches Land. Sicher, wir verrichten alle unser Gebet, aber das heißt doch noch lange nicht, dass wir einen islamistischen Staat haben wollen. Wir sind hier nicht in Afghanistan.« Auch von der angekündigten Wiederzulassung der unter dem gestürzten PräsifdentenZine el-Abidine Ben Ali verbotenen fundamentalistischen Partei En-Nahdha hält er nichts. Die Aufhebung der Verbote aller Parteien war am Vortag in der ersten Sitzung des neuen Kabinetts beschlossen worden. Regierungssprecher Taieb Baccouch hatte zudem unter anderem eine Generalamnestie sowie die Rückgabe des RCD-Besitzes an den Staat angekündigt. Außerdem soll eine Wahrheitskommission zur Aufklärung der Verbrechen des Ben-Ali-Regimes sowie eine Arbeitsgruppe zur Umsetzung politischer Reformen geschaffen werden.

Die Bevölkerung nahm die ersten Maßnahmen der Übergangsregierung mit Zurückhaltung zur Kenntnis. Noch immer sind nicht alle Forderungen erfüllt. So sammelten gestern Mitarbeiter der Tuniser Buchhandlung »El Kitab« Unterschriften für eine Petition, in der sie die Aufhebung der Bücherzensur fordern. Im Schaufenster ausgelegte Werke zensierter Autoren, wie die Menschenrechtlerin Sihem Bensedrine, locken zahlreiche Neugierige an. Vor allem das in Frankreich erschienene Buch über den korrupten Trabelsi-Clan – »Die Herrscherin von Karthago« – weckte das Interesse. »Die Nachfrage ist riesig«, sagt Ladeninhaberin Selma Jabbes gegenüber ND. »Wir haben viele Bestellungen, aber der Zoll hat immer noch Anweisung, diese Werke nur mit Genehmigung des Innenministeriums freizugeben, und die liegt nicht vor. Wir fordern deshalb, dass dieselbe Freiheit, die bereits den Medien eingeräumt wurde, auch auf die Veröffentlichung von Büchern ausgeweitet wird. Seit heute morgen haben schon mehr als 500 Leute unsere Petition unterschrieben.«

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