Der Junge mit den Pferden

Der lange Weg des Walter Morgenbesser ins Gelobte Land

  • Detlef Balke
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Pferde hat er gegen einen Roller »eingetauscht«. Die etwa zehn Kilometer von Cholon ins Zentrum von Tel Aviv sind keine Herausforderung für den 80-jährigen Walter Morgenbesser. Er fährt vorsichtig, gelangt aber dennoch schneller ans Ziel als mit dem Bus. Sie treffen sich fast jeden Freitagvormittag im Untergeschoss des »Gan HaIr«, einem kleinen Einkaufszentrum. Walter ist einer der Jüngsten in dieser Runde. Die meisten sind weit über achtzig. Sie tauschen Neuigkeiten über Kinder und Enkel und gemeinsame Bekannte aus.
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Er war 14, als sie ihn zusammen mit seinem Vater Emanuel und seiner Mutter Fancsi im geschlossenen Eisenbahnwaggon von Prešov über Auschwitz nach Ravensbrück transportierten. Walter stammt aus Spišská Nová Ves (Zipser Neuendorf). Die Morgenbessers nannten den Ort unterhalb der Hohen Tatra bei seinem ungarischen Namen »Igló«. Walters Deutsch weist einen starken ungarischen Akzent auf. Sein Slowakisch ist besser als sein Deutsch.

»In der Zips gab es drei offizielle Sprachen: Slowakisch, Deutsch und Ungarisch. Staatsbeamte mussten alle drei Sprachen beherrschen. Wir Juden sprachen Deutsch – zu Hause, in der Schule, im Geschäft, in der Synagoge. Aber auf der Gasse unterhielten wir Kinder uns auf Slowakisch.« Der Knabe Walter, Enkel eines angesehenen Rabbiners und Sohn eines traditionsbewussten Schneiders, musste außerdem Hebräisch lernen, um die Gebete wenigstens mitmurmeln zu können.

Ein Hans Dampf in allen Gassen

Der 1930 Geborene war der Jüngste unter sieben Geschwistern. Alle Brüder hatten hervorragende Schulzeugnisse, vier studierten. Sein großes Vorbild war der älteste, Samuel. Der war Militärarzt geworden, nachdem er sein Studium an der deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag mit Auszeichnung absolviert hatte. Er war der Stolz aller. Walter ging ungern und unregelmäßig in den Cheder, die jüdische Religionsschule; auch die Volksschule schwänzte er mitunter. Allzu oft wurde er vom Lehrer mit dem Stock auf die Hände geschlagen. Der Vater hielt seine Söhne im linkszionistischen »HaShomer HaZair« gut aufgehoben. Er selbst fuhr oft zu zionistischen Landeskonferenzen, nach Budapest und Brünn. Die Auswanderung nach Palästina war sein Lebensziel. Diesen Traum übertrug er auch auf seine Söhne. Und Samuel wäre es sogar beinahe gelungen, mit Bruder Wilhelm ins Gelobte Land zu reisen, als Vorboten für die Familie. Sie hatten schon britische Visa. Doch dies nutzte nichts. 1939 blieben die Schiffe am Donaukai von Bratislava liegen.

Walter war »der Junge mit den Pferden«. Nur er durfte das Zugpferd »Šarka« des begüterten jüdischen Nachbarn der Morgenbessers reiten. Manchmal durfte er auch Pollaks Luxuslimousine Marke »Praga« fahren. Walter war ein Hans Dampf in allen Gassen. Mit seinen hellen Haaren und blauen Augen sah er aus wie jeder »volksdeutsche« Junge. Vielleicht nahm deshalb eines Tages ein junger deutscher Unteroffizier ihn unter seine Fittiche? Walter wurde Putzer von Max Seidel aus Hannover. Sie freundeten sich an. Auch als Walter jenem seine jüdische Identität offenbarte, blieben sie Freunde. Doch der Krieg trennte sie.

»Vater war naiv«, meint der jüngste Sohn heute. Er habe auf sein Handwerk und seine guten Beziehungen zum katholischen Hausherrn, der als Priester zudem einer seiner wichtigsten Kunden war, vertraut. Der war zwar kein Judenhasser wie sein Bischof, aber hat die Morgenbessers nicht vor dem Holocaust bewahrt.

Das einschneidende, schicksalhafte Ereignis im Leben der Morgenbessers war die Niederlage des slowakischen Nationalaufstandes im August 1944. SS-Panzertruppen besetzten die Slowakei, retteten die Macht des Präsidenten von Hitlers Gnaden, Tiso. Nun sollten auch die letzten slowakischen Juden ins Gas von Auschwitz kommen. Doch der Transport Nr. 104, zu dem die Morgenbessers eingeteilt waren, endete im KZ Ravensbrück.

Der 14-jährige Walter Morgenbesser, Häftling Nr. 11707, wurde mit den übrigen 20 Kindern des Transportes aus der Slowakei in den Kinderblock Nr. 5 überführt. Die Jungen mussten mit Zangen, Messern und Schraubenziehern die Schuhe der neu eingelieferten Häftlinge auseinandernehmen, um hierin eventuell verstecktes Geld und andere Wertsachen zu finden. Ihr Kapo war ein Berufskrimineller. Für seine »Kinderchen« gab es ab und zu Gulasch aus seiner Katzenzucht.

Der Deutsche in russischer Uniform

Ravensbrück war nicht die letzte Leidensstation, sondern Sachsenhausen. Am 22. April 1945, 13 Uhr, wurden Vater und Sohn dort von der Roten Armee befreit. Es flogen noch die Kugeln, als das Tor aufgebrochen wurde und ein sowjetischer Major die Gefangenen aufforderte, schnellstens zu verschwinden. Walter Morgenbesser erinnert sich: »Wir mussten uns wieder und wieder in den Straßengraben werfen, wenn die Flugzeuge kamen. Als wir gegen Abend das zerstörte Städtchen Bernau erreichten, besorgte uns der dortige Stadtkommandant, ein junger sowjetischer Leutnant, einen Platz zum Schlafen – erstmals wieder in richtigen Betten. Und am Morgen bekamen wir ein ordentliches Frühstück.«

Dass der vermeintlich sowjetische Leutnant ein Deutscher gewesen sein könnte, erstaunt Walter: »Aber der hatte doch eine russische Uniform an.« War es der jüngste Sohn des deutschen Dramatikers Friedrich Wolf? Jahrzehnte später wird Konrad Wolf einen Film drehen: »Ich war Neunzehn«.

Über Schlesien gelangten Vater und Sohn Morgenbesser 1945 nach Hause. Von der Mutter keine Spur. Walter erfährt, dass von seinen Mitschülern in der jüdischen Volksschulklasse einzig Vera Rosenthal überlebt hat. Den Vater und seinen Sohn hält es nicht länger in der alten Heimat. Sie brechen 1947 auf nach Palästina. In Israel wird Vater Morgenbesser »Hofschneider des Kibbuz Arzi«. Er hat nie wieder geheiratet. Walter Morgenbesser selbst gehörte zu den Gründern des Kibbuz Sasa an der libanesischen Grenze. »Yoter BaBeit: Sasa« – mehr als ein Zuhause – ist auf einem großen Button zu lesen, der in einer Schale liegt. Walter denkt gerne an diese Zeit zurück. Sasa war ein linker Kibbuz. Lenins »Materialismus und Empiriokritizismus« hat er allerdings nie recht verstanden, und auch beim »Kapital« musste Walter passen. Im Streit habe er jedoch dann den Kibbuz zusammen mit seiner damaligen Frau verlassen. Er arbeitete im Straßenbau und wurde Berufskraftfahrer. Er liebt den Geruch von Asphalt.

Stolz berichtet Walter Morgenbesser, er habe drei Kinder: Amit, Dafne und Iris. Sie schenkten ihm mehrere Enkel. In den letzten Jahren hat er ab und an die alte Heimat, die Slowakei, besucht. Dort traf er nur noch wenige Juden an, aber noch viele einstige slowakische Nachbarn und Freunde.

Walter Morgenbesser lebt mit seiner Hausgehilfin Maria aus Galizien zusammen. Die beiden kommunizieren in einem slawisch-hebräisch-jiddischen Sprachmix. Das Alter setzt ihm nun doch stärker zu. Ein paar Schrammen hat auch sein Roller, der Sitz ist lädiert. Die zwei passen zueinander.

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