Arm, krank, alt – und deshalb ausgeschlossen?

Berliner Forschungsprojekt sucht Wege zur Selbstbestimmung von sozial Benachteiligten

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 2 Min.
Soziale Ungleichheit reduziert die Chancen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Das gilt auch für ältere Menschen, und verschärft sich, wenn sie zudem krank sind. Diese Bilanz zog jetzt ein dreijähriges Forschungsprojekt des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung Berlin (WZB) mit dem Titel »Neighbourhood«.
Trotz Armut selbstbestimmt alt werden? Kay Fochtmann/photocase.com
Trotz Armut selbstbestimmt alt werden? Kay Fochtmann/photocase.com

Im Westberliner Altbauquartier Moabit, im Ostberliner Marzahn und im brandenburgischen Oder-Spree-Kreis untersuchten Wissenschaftler, wie pflegebedürftige Ältere einen Rest von Selbstbestimmung bewahren können. Die Fallstudie zeigt, dass schon eine Beratungsstelle weiterhelfen könnte, die niedrigschwellig arbeitet und damit denjenigen Hilfe vermittelt, die sonst keine Beratung suchen. Die kurz getakteten Arbeitsrhythmen der ambulanten Pflegedienste erlauben es offenbar nicht, Verwandte und Freunde der zu Pflegenden einzubeziehen. So werden Wünsche nach Zeit, Begleitung und sozialem Kontakt in der Regel nicht erfüllt.

Aktuelle Diskrepanzen zwischen zu teuren Heimen und andererseits unterversorgten Kranken benannte Thomas Klie von der Evangelischen Hochschule Freiburg. Der Sozialwissenschaftler bestritt, dass im häuslichen Pflegebereich »alles in Ordnung« sei, wie oft behauptet werde. Daten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen zeigten, dass es in zehn Prozent der Fälle in den Haushalten zu Fixierungen und Einsperrungen kommt, bei Demenzkranken sogar in 50 Prozent. Damit zeige sich, dass Familien häufig mit der Pflege überfordert seien. Aus Klies Sicht gibt es nicht nur die Alternative zwischen Familie oder Heim. Nachbarschaftliche und ehrenamtliche Hilfe funktionierten jedoch nur, wenn sie professionell unterstützt würden. In der Bundesrepublik sei man weit entfernt von einem sinnvollen Mix der Angebote. Bessere Rahmenbedingungen für die Pflege seien erreichbar, wenn sie zum kommunalpolitischen Thema würden. Zudem müssten die rechtlichen Bedingungen flexibler werden. Dazu gehöre, ambulante und stationäre Pflege nicht mehr zu trennen.

In dieser Richtung sieht Susanne Kümpers vom WZB auch den künftigen Forschungsbedarf: Es müssten Wege gefunden werden, wie Pflegeversicherung und Kommunen besser zusammenarbeiten könnten. Gesucht werden müsse nach Möglichkeiten, bürgerschaftliches Engagement für alle sozialen Gruppen zu fördern. Die Pflege sollte durch die in diesem Rahmen arbeitenden Berufsgruppen – über Altenpfleger und Krankenschwestern hinaus – Ältere in besonders schwierigen Situationen auch besonders unterstützen können.

Über die Misere armer und alter Menschen in den Städten berichtete auch Paul McGarry von der Stadtverwaltung Manchester. Da die nordwestenglische Metropole besonders unter jungen Leuten als hip gilt, wird sie vor allem für Konsumenten dieser Altersgruppe umgestaltet. Menschen ohne Geld, Bildung und starke Netzwerke, dazu noch krank oder behindert, verlieren in diesem Umfeld nach und nach ihre sozialen Beziehungen. Wegen des hohen Anteils armer älterer Bürger hat sich die Kommune einer Initiative der Weltgesundheitsorganisation WHO für altersfreundliche Städte angeschlossen. Zur Wertschätzung für die betagten Mitbürger gehört ein Beirat, der regelmäßig mit der Stadtverwaltung über notwendige Verbesserungen berät.

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