Kunst gegen Katastrophenfolgen

Was die armenische Erdbebenstadt Gjumri mit Berlin verbindet

  • Veronika Wengert, Jerewan
  • Lesedauer: 4 Min.
Gjumri gilt als Armeniens Armenhaus. Vor zwei Jahrzehnten wurde die Stadt bei einem verheerenden Erdbeben stark beschädigt; bis heute wirkt vieles improvisiert oder gar vergessen. Hoffnung bieten Kunstprojekte
Noch immer trägt Gjumri die Narben des Bebens.
Noch immer trägt Gjumri die Narben des Bebens.

Der Zeiger springt auf 11.41 Uhr. Der Ingenieur Alexan Ter-Minasjan ist gerade auf dem Weg in die Kantine der Textilfabrik von Gjumri – damals noch Leninakan – im Norden Armeniens. Plötzlich beginnt die Erde zu zittern. Mit ohrenbetäubendem Lärm krachen Gebäudeteile zu Boden, dichte Staubwolken wabern durchs Treppenhaus um ihn herum und brennen in seinen Augen. Bilder des Schreckens, die Ter-Minasjan nicht vergessen kann. Die Erdstöße an jenem 7. Dezember 1988 fordern mehr als 25 000 Todesopfer in der Region nahe der Grenze zur Türkei.

In Gjumri, mit 130 000 Einwohnern die zweitgrößte armenische Stadt, ist das Unglück bis heute allgegenwärtig: Zwei Kuppeln auf dem Rasen vor der Kirche auf dem Hauptplatz erinnern an ein früheres Gotteshaus an dieser Stelle. In der Nähe sitzen drei weißhaarige Männer auf einem Treppenvorsprung. Sie blinzeln in die Sonne. Wie es sich hier lebe? Sie schütteln den Kopf. Die Rente reiche gerade mal für fünf Tage, alles sei teuer. »Wir leben nicht, wir existieren.«

Auf der anderen Seite des Platzes ragt ein Baugerüst in den Himmel, Schlaglöcher sprenkeln die umliegenden Straßen. An Ständen im Freien werden Teppiche, Plastikeimer und Heizöfen feilgeboten. In wadentiefen Pfützen am Stadtrand spiegeln sich Container, die mit rostigen Metallplatten geflickt wurden. Mehr als 4000 Familien leben hier noch. Eigentlich illegal, aber geduldet. Die Regierung hat 200 Millionen US-Dollar für Wohnungen versprochen, bislang ist die Hälfte geflossen.

Neres Jeritsjan, bis vor kurzem Wirtschaftsminister Armeniens, hat jedoch große Pläne: Gjumri soll einen Technologiepark erhalten, der neue Stellen und eine Perspektive schafft. Und ein Zentrum von Kunst und Kultur soll die Stadt werden. Doch nichts passiere in nur einem einzigen Jahr, vertröstet Jeritsjan.

Die Fassade eines Hauses unweit der Kirche wurde mit faustdicken Plastikfäden genäht, die das marode Gebäude symbolisch zusammenhalten sollen. »Ein S.O.S. der Häuser«, interpretiert Alexan Ter-Minasjan die von der Sonne verblichene Installation. Gjumri, die vergessene Erdbebenstadt, will es Kassel als Vorbild gleichtun. »Schließlich entstand die Dokumenta auch in einer zerstörten Stadt«, sagt Ter-Minasjan. Also organisierte der örtliche Kunstverein im vergangenen Herbst bereits zum siebten Mal eine transkaukasische Biennale. Kunst gebe dem Leben Würze, verkündet Ter-Minasjan optimistisch. Auch darum bleibe er in Gjumri.

Im »Art-Hotel Berlin«, dass der ehemalige Ingenieur inzwischen als Direktor leitet, stellen örtliche Künstler aus. Vor dem Eingang begrüßt ein quietschgelber Berliner Bär die Besucher, ein Aufkleber an der Glastür verabschiedet die Gäste mit »Auf Wiedersehen«. Die Rezeption schmücken kunstvolle Behälter, den schmalen Gang zieren Fotografien antiker Steinkreuze, Gemälde und Collagen – kreative Schöpfungen stehen im Mittelpunkt des Hotels, das zugleich kulturelle Begegnungsstätte ist.

Das Haus hat seinen deutschen Namen nicht von ungefähr: Es wurde ursprünglich als Bettenstation der angrenzenden Poliklinik errichtet, unter Federführung des Deutschen Roten Kreuzes Berlin. Ein Verbund von Berliner Hilfsorganisationen war an der Errichtung nach dem Erdbeben beteiligt. Armenische Polikliniken sind jedoch ambulant ausgerichtet, das Bettenhaus zur stationären Betreuung war also nicht erforderlich und wurde stattdessen zunächst als »Gästehaus Berlin« genutzt, bevor es sich ins »Art-Hotel« verwandelte. Die Besonderheit des Rot-Kreuz-Projekts: Ohne die Herberge könnte sich die Poliklinik kaum finanzieren, denn die Hotelerlöse decken deren Kosten für Strom, Wasser, Heizung und manchmal auch neue Ausrüstung.

Auch wenn die Übernachtungsgäste längst nicht mehr bei internationalen Hilfsorganisationen beschäftigt sind wie in den Anfangsjahren, kann sich Ter-Minasjan nicht beklagen. Man lebe zu 100 Prozent von Privatreisenden. Geschäftstouristen verirrten sich dagegen nur selten nach Gjumri. Bergsteiger aber nutzen die 1550 Meter hoch gelegene Stadt als Ausgangspunkt für Wanderungen, Gjumri habe zudem die älteste Altstadt Armeniens, in der Nähe gebe es vorchristliche Ausgrabungen, zählt Ter-Minasjan auf. Und genau darin sehe er das Potenzial seiner Heimatstadt: Kunst und Kultur geben Gjumri neue Hoffnung.

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