Blick über den deutschen Gartenzaun

Rosa-Luxemburg-Stiftung legte Analyseband zu linken Parteien in Europa vor

  • Anni Seidl
  • Lesedauer: 3 Min.
Brauchen wir als Linke in Deutschland eine Debatte über linke Parteien in Europa und ihre vielschichtigen Probleme? Eine dringend zu bejahende Frage. Weil wir mehr denn je, um sachlich über unsere »inneren Befindlichkeiten« debattieren zu können, den Blick über den deutschen Zaun hinaus brauchen und die Fragen und Probleme dieser Parteien auch die unsrigen sind. Ich bejahe diese Frage auch deshalb, weil in der bisherigen Debatte zum Programmentwurf der LINKEN der Blick auf Europa nicht ausreichend einbezogen wird.

Birgit Daiber, Cornelia Hildebrandt, Anna Striethorst und andere weiten unseren Blick. Schon das ist ein Gewinn. Sie zeigen, wie wesensgleich die Debatten und die zu lösenden Probleme linker Parteien in Europa bei aller historischen und nationalen Unterschiedlichkeit sind, wie reich der Erfahrungsschatz ist, der in unserem Ringen um eine sozial gerechte Welt schlummert.

Was also macht diese Publikation gerade gegenwärtig so wesentlich? Zum ersten die solide, faktenreiche vergleichende Analyse linker Parteien. Die Autorinnen und Autoren analysieren jene Fragen und Probleme, die alle Parteien bewegen: Wie gehen wir mit der zunehmenden Pluralität in der Mitgliedschaft um? Wozu brauchen wir linke Parteien, was ist ihr Gebrauchswert? Was eint und trennt die linke Parteienfamilie? Zum zweiten zeichnet sich die Schrift durch eine beeindruckende Charakterisierung von Problemen und Entwicklungen von linken Parteien in 25 europäischen Ländern aus.

»Im Zentrum unseres Interesses«, so die Herausgeberinnen, »stand und steht die Frage nach den Potentialen der linksradikalen Parteien und ihre Chancen, aus der seit der Zäsur von 1989 vorherrschenden Defensive herauszufinden.« Dieser Anspruch macht die Identität der inhaltlichen Diskurse sichtbar und damit die Verantwortung der Linken in Deutschland, offener und kulturvoller mit den Problemen umzugehen, zu lernen, pluraler, ohne Scheuklappen und Verbissenheit gemeinsam nach Lösungen für ein lebenswertes und lebensmögliches Leben zu streiten im Kapitalismus und über ihn hinausweisend.

Die Erfahrung besagt, dass Parteien, insbesondere linke, mehr denn je den sozialen, politischen wie sozialpsychologischen Folgen von zunehmender Individualisierung von Lebensweisen sowie der qualitativ neuartigen Verarbeitung von historischen Erfahrungen, Traditionen u.ä. reale Aufmerksamkeit widmen sollten, um Alternativen, Projekte zur Diskussion zu stellen, die diesen Entwicklungen Rechnung tragen. Insofern ist die Analyse, die Striethorst vornimmt, wesentlich wie auch die zusammenfassende Aussage von Hildebrandt, dass die Zustimmung zu linken Alternativen immer dann am größten ist, »wenn linke Positionen glaubwürdig, kohärent, durchsetzbar und zugleich zukunftstauglich erscheinen und noch dazu verbunden werden mit der konkreten Verbesserung der Lebensverhältnisse«.

Weiter wird festgestellt, dass heute vor allem Frauen und junge Menschen sich durch eine bestimmte »Parteienabstinenz« auszeichnen. Wenn das so ist, und Statistiken in dieser Publikation belegen das, dann müssen wir nach den Ursachen fragen. Sie liegen unter anderem im Agieren und im Erscheinungsbild linker Parteien selbst. Noch strahlt dieses Bild wenig Attraktivität aus. Politische Kultur, wie sie heute gebraucht wird, bestimmt von Achtung der Individualität, von Toleranz, von Kompromissfähigkeit, Solidarität gehört meist nicht zum täglichen Handeln. Frauen und junge Menschen werden oft abgestoßen von Besserwisserei, von auch öffentlich ausgetragenen »Machtkämpfen« u.ä.. Also Verhaltensweisen, die in der Geschichte der Arbeiterbewegung verheerende Folgen hatten und eine der Ursachen der Diskreditierung des sozialistischen Ideals sind. Und zu den Ursachen gehört ebenso die Beantwortung der Frage nach neuen politischen Aktionsformen, nach dem tatsächlichen Nutzen der neuen Medien, die letztlich die Frage nach modernen Demokratieformen und deren Nutzung aufwerfen

Mit solchen und ähnlichen Problemen ist diese Publikation überfordert, aber in ihrem Nutzen und in ihrer Weiterentwicklung sollten wir sie stellen, weil damit direkt die Zukunftsfrage der Linken in Europa und damit auch in Deutschland verbunden ist, die Frage: Wen kann die Linke an sich binden?

Look Left, von Revolution bis Koalition, Linke Parteien in Europa. Hsg: Birgit Daiber, Cornelia Hildebrandt, Anna Striethorst, erschienen bei dietz Berlin 2010 als Texte 52 der Rosa-Luxemburg-Stiftung, 19,90 Euro

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