Komplizenschaft mit den Despoten

M. Cissé über die Verantwortung des Westens

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Die Senegalesin Madjiguène Cissé lebte vier Jahre illegal in Frankreich. Sie war Mitorganisatorin des WSF.
Die Senegalesin Madjiguène Cissé lebte vier Jahre illegal in Frankreich. Sie war Mitorganisatorin des WSF.

ND: Die Frage der Migration und der Diaspora spielte eine zentrale Rolle beim WSF. Wieso?
Cissé: Das ist das zweite große Forum in Afrika, nach Nairobi 2007. Afrika kann nicht ohne seine Diaspora sprechen. Denn sie ist an dem, was auf dem Kontinent passiert, mitbeteiligt. Deswegen haben wir den Ausschuss Migration und Diaspora gegründet. Wenn wir von Diaspora sprechen, meinen wir zum einen die historische Diaspora, die Menschen die als Sklaven nach Amerika kamen. Ihre Nachfahren sind heute mehrheitlich in den Vereinigten Staaten und Brasilien. Und dann gibt es auch die zeitgenössische Diaspora.

Welche Rolle spielt die Migration?
Die Frage der Migration ist zentral am Anfang des 21 Jahrhunderts. Ein Teil der Welt, der es einigermaßen gut hat, versucht sich zu verbarrikadieren. Während der Rest der Welt – von vielen Problemen geplagt –, versucht sie zu lösen, indem die Bevölkerung die Migration antritt.

Wie sehen sie Europa in diesem Kontext?
Die Frage nach Bewegungsfreiheit, die Frage nach den Grenzen muss beantwortet werden. Dass Europa seine Grenzen schließt, kann nicht die Lösung sein. Anderseits haben wir auch innerhalb Afrikas Problemen mit der Bewegungsfreiheit. Selbst innerhalb der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft, wo wir keine Visa brauchen. Zum Beispiel Frauen, die Handel zwischen den Grenzen treiben, werden von der Polizei schikaniert. Das sehe ich oft, im Zug zwischen Dakar und Bamako.

Und was erwarten Sie von der Diaspora?
Die Frage ist, wie kann man sie an dem Schicksal Afrikas interessieren und welchen Beitrag sie für die Entwicklung Afrikas spielen kann. Die Diaspora insbesondere in Europa sollte eine Brückenfunktion zwischen Europa und Afrika übernehmen, über ihre Erfahrung im Ausland sprechen und sich an der Entwicklung auf dem Kontinent beteiligen. Viele Milliarden fließen nach Afrika dank der Migranten. Aber ich frage mich, ob das Geld gut genutzt wird. Vieles wird in Prestigeprojekte gesteckt. Ich glaube nicht, dass ein Palast in einem Dorf besonders notwendig ist.

Was sollte man mit dem Geld der Migranten machen?
Das Geld sollte Arbeitsplätze schaffen. Unsere Staaten haben eine Verantwortung. Bislang tun sie nichts, um das Geld der Migranten besser zu nutzen. Wenn unsere Regierungen klüger wären, würden sie versuchen, das Wissen und die Erfahrung der Migranten einzusetzen, um die Entwicklung in Afrika voranzutreiben. Man könnte vieles bewegen mit der Diaspora.

Welche Rolle spielen die Frauen?
Man kann nicht von Entwicklung Afrikas ohne Frauen sprechen. Die Frauen sind diejenigen, die die Familien ernähren. Und in der Diaspora sind sie auch besser organisiert als die Männer. Die Frauen haben einfach den Reflex, sich zu organisieren. Das Problem der Frauen sind ihre geringen finanziellen Mittel. Sie verdienen weniger Geld und viele Frauen arbeiten gar nicht. Sie sind im Norden stärker diskriminiert als die Männer, was den Zugang zu besser bezahlten Jobs angeht.

Wie stehen sie zu der Frage der Wiedergutmachung für die Sklaverei?
Der Sklavenhandel ist lange her, aber ich bin davon überzeugt, dass Afrika immer noch darunter leidet. Insbesondere im Unterbewusstsein. Symbolisch hat Afrika ein Recht, darüber zu sprechen. Und Europa sollte dafür Verantwortung tragen. Wenn wir die Sklaverei und die Kolonisierung zusammenrechnen würden, müssten wir keine Schulden zurückzahlen und könnten stattdessen einen Marschallplan für Afrika entwickeln.

Mit welchen Regierungen?
Die Geberländer kennen unsere Regierungen gut. Die Korruption hat jüngst etwa in Senegal stark zugenommen. Oder nehmen wir den Fall Tunesien. Ben Ali ist geflohen und die Schweiz blockierte seine Konten, wo Milliarden lagen. Komischerweise bevorzugen die Geberländer die Beziehungen mit solchen autoritären Herrschern. Ich spreche auch von Komplizenschaft. Wichtig ist die Demokratisierung der Hilfe. Die Völker müssen ihre Augen auf die Hilfe richten können: Wie viel Geld kommt und wo wird es investiert. Das ist der große Kampf, den wir führen müssen.

Fragen: Odile Jolys

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