Werbung

Ankunft in der Inselstadt

Station Berlin. Texte österreichischer Autoren

  • Kai Agthe
  • Lesedauer: 3 Min.

Berlin zog österreichische Autoren spätestens seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts magisch an. Scheinbar haben alle irgendwann einmal in Berlin Station gemacht. Eine Anthologie mit Texten von Schriftstellern aus Österreich in Berlin war also überfällig. »Station Berlin« ist weder chronologisch noch alphabetisch, sondern thematisch und sehr assoziativ in die Rubriken »Kontraste«, »Großstadt«, »Psychogramme«, »Männer«, »Teilung«, »Fassade« und »Schnappschüsse« geordnet. Jede Autorin, jeder Autor wird vor seinem Text über die Stadt kurz vorgestellt. Der nachtschwarze Band mit dunkelgrüner Etikett-Prägung und knallrotem Lesebändchen ist sehr geschmackvoll gestaltet und erinnert an die schlichte Buch-Ästhetik, die der Kurt Wolff-Verlag in Leipzig Anfang des 20. Jahrhunderts pflegte. Das Geleitwort zu dem Band steuerte Christian Prosl bei, der zwischen 2003 und 2009 zwar nicht als Schriftsteller, wohl aber als Botschafter der Republik Österreich in Berlin lebte und damit einer von sage und schreibe 8000 Österreichern in der gesamtdeutschen Hauptstadt war.

Wie die Herausgeber Gregor Gumpert und Ewald Tucai in ihrer Einleitung betonen, haben österreichische Autoren seit jeher Berlin geschätzt »als Ort intellektueller und lebensweltlicher Freiheit (begreiflicherweise wird die Hauptstadt der Unfreiheit in den Jahren 1933 bis 1945 gemieden), als Ort des künstlerischen Experiments, als politischer Ort, an dem die Folgen weltgeschichtlicher Ereignisse bis in den Alltag hinein spürbar sind«. Die Texte von 42 Autorinnen und Autoren machen das exemplarisch deutlich. Es handelt es sich vor allem um Prosa, d.h. um Miniaturen, Essay- und Roman-Auszüge. Auch Gedichte (u.a. Albert Ehrenstein, Birgit Müller-Wieland, Elfriede Gerstl, Ernst Jandl) haben Eingang gefunden und in zwei Fällen auch Passagen aus Dramen (Ferdinand Bruckner, Peter Turrini).

»Ich lernte das alte Berlin kennen, als es Abschied von sich nahm«, erinnert sich Hermann Bahr 1923 in »Selbstbildnis« an die gründerzeitlich prosperierende Reichshauptstadt der 1880-er Jahre. Stefan Zweig erklärt in »Die Welt von gestern« (1944), dass er in Berlin »eine höhere und noch vollkommenere Art der Freiheit« suchte. »Nachts eine Mondlandschaft der Krater und Häusergerippe, tags eine Ninive, ein Sodom und Gomorrha nach der Zerstörung, in dem von Neuem ein atemloses, hektisches Leben pulsiert«, so die Journalistin Hilde Spiel über den 1. Juli 1948 in der Viersektorenstadt. Drei Jahre später notierte Alfred Polgar bei Gelegenheit eines Besuchs in der geteilten Stadt: »Wenn den Berlinern ganz miserabel zumute ist, gehen sie ans Brandenburger Tor, gucken in ihre andere Hälfte (getrennt, aber nicht geschieden) hinüber und fühlen ihre Nöte um eine Nuance erträglicher.« Wolfgang Hermann, der von 1987 bis 1990 in West-Berlin lebte, erlebte die »Frontstadt« vor dem Mauerfall so: »Nirgendwo sonst habe ich so sehr die Leere, die Abwesenheit des Lebens gefühlt wie in der künstlich am Leben erhaltenen Inselstadt Berlin.«

Friederike Mayröcker hingegen versichert, dass sie während eines Stipendien-Aufenthalts in West-Berlin nicht habe arbeiten können und an den Wochenenden stets nach Wien zurückflog, um in vertrauter Umgebung zu schreiben: »In Berlin hab ich dann höchstens korrigiert.« Diese Erkenntnis Mayröckers deckt sich mit einer Auskunft der 1936 in Berlin geborenen und 2010 in Weimar gestorbenen Dichterin Gisela Kraft, die ihren 1997 erfolgten Umzug in die Goethe-Stadt mit dem Hinweis zu erklären pflegte, dass Berlin eine Stadt der Kritik, Weimar aber eine Stadt der Poesie sei.

»Station Berlin« bietet einen überaus facettenreichen Blick auf die Stadt, die seit 1990 wieder sein darf, was Wien, ganz ohne Zäsuren, seit Jahrhunderten ist: eine europäische Metropole.

Station Berlin. Texte österreichischer Autoren. Hrsg. von Gregor Gumpert und Ewald Tucai. Verlag publication PN°1. Bibliothek der Provinz. 282 S., geb., 24 €.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal