Mast ... Podium ... Rüttelstrecke

»Lebenslauf, zweiter Absatz« – Erzählungen von Hermann Kant

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.

Bei acht Grad unter null und Ostwind an einem vereisten Holzmast hängt der Knabe, um gesprungene Isolatoren auszuwechseln. Sieht vielversprechenden Rauch aus des Gutshauses Schornstein steigen. Frühstück? Die Tür öffnet sich, aus einer weißen Wolke nähert sich ein Mädchen, winkt, ruft irgendwas. »Sicherlich ›Frühstück‹, aber der Deibel sollte mich holen, wenn ich das bemerkte. Die sollten mal sehen, was arbeiten heißt ... Das war immer eine feine Sache, wenn die Mädchen auf der Straße stehenblieben und neugierig-ängstlich zu einem raufsahen; da war man doch wieder froh, daß man kein Bäcker geworden war ...«

Sondern Elektrikergeselle, wie Hermann Kant einer war, bevor er zur Wehrmacht eingezogen wurde. Sechs Wochen Soldat und vier Jahre Gefangenschaft. An dieser Zeit im Gefängnis und später im Lager kommt keiner vorbei, der sein Leben und sein Schreiben bedenkt. Aber zurück zu besagter Erzählung »Mitten im kalten Winter«, die ein glänzendes Stück Prosa ist. Deshalb müsste sie manchem aus Kants Band »Ein bisschen Südsee« noch präsent sein, ebenso wie die beeindruckende Erzählung »Krönungstag«. Aber ich wage das Versprechen: Die Lektüre wird für viele ein »Aha-Erlebnis«, wenn nicht gar eine Neubegegnung sein.

»Lebenslauf, zweiter Absatz« einen neuen Band Hermann Kants zu nennen, würde zwar verkaufsfördernd sein, stimmt aber nicht. Von den elf Texten ist nur einer – »Patchwork« – gänzlich unveröffentlicht, zwei erschienen in Zeitschriften, die übrigen waren in den Bänden »Ein bisschen Südsee« (1962), »Eine Übertretung« (1975), »Der dritte Nagel« (1985) und »Bronzezeit« (1986) enthalten. Dass diese vom Aufbau Verlag nicht lieferbar gehalten wurden, wird durch vorliegende Publikation nicht wettgemacht. Aber die gelungene Auswahl zeigt immerhin, dass sich der Erzähler Kant hinter dem Romancier nicht zu verstecken braucht. Kleine, funkelnde Prosastückchen, die, so einzeln betrachtet, umso mehr faszinieren.

Die Erzählung »Der Glasberg« kannte ich noch nicht. 1959 verfasst, aber erst 2008 in der Zeitschrift »Risse« veröffentlicht, muss sie wohl zu Kants ersten literarischen Versuchen gehört haben. Ist aber kein Versuch, sondern lässt aufmerken, weil sich uns viel vom Wesen des Autors enthüllt. Auch eine Geschichte aus Parchim, wo Kant zum Elektriker ausgebildet werden sollte (und das womöglich geblieben wäre, hätten nicht Krieg, Gefangenschaft, antifaschistisches Engagement, ABF, Schriftstellerverband seinem Leben eine andere Richtung gegeben).

Diesmal wird der junge Mann nicht auf einen Mast geschickt, sondern soll »nur« einen Kurzschluss im Haus eines Schnapsbrenners suchen. Woran drei angesehene Elektromeister im Ort schon gescheitert waren, das soll ihm gelingen? Das war etwa das, »was im Märchen die unbezwingbaren Glasberge oder die jungfrauenverzehrenden Feuerdrachen für reisende Königssöhne und wandernde Müllerburschen sind«. Ja, er hat sich früh schon gekannt: Ein gewitzter Müllerbursche aus dem Märchen – die Rolle gefiel ihm. Dass er den Schnapsbrenner mit »Quisquilien« verblüffte und sich hinterm Umschlag des Elektrikerhandbuchs ein Band von Edgar Wallace verbarg, gehörte zum Spiel. Ein Spiel – keine Prüfung –, das man durch Gewitztheit gewinnt. Die später schon fast zur Gewissheit wird: Das kriege ich schon hin.

Sicher, das gab es auch immer wieder: dass etwas nicht hinzukriegen war. Der Soldat, der in »Lebenslauf, zweiter Absatz« unter einem polnischen Bauernbett im Staube lag, musste hervor und die Hände heben. Der Autor, der in »Eine Übertretung« über die deutsch-deutsche Grenze fuhr und auf DDR-Seite gebeten worden war, eine 92-Jährige nebst ihrer Habe mit nach »drüben« zu nehmen, kann diese zwar überreden, zwischen Wartha und Herleshausen nicht für immer die Augen zu schließen, aber das Niemandsland breitet sich in ihm selber aus. Wie er immer und immer wieder seinen Pass zeigen muss, wie sie »von Handzeichen zu Handzeichen meinen zeitweisen Abgang behandeln, grau ist mir, und ich altere sehr«. Das so hinzuschreiben – 1975 ...

Die sich damals zugute hielten, beim Lesen auf feinste Zwischentöne zu achten, haben sie in seinem Falle wohl auch absichtsvoll überhört – um nicht »höchstes« Missfallen auf das Buch zu lenken, nachdem es mit Kants »Impressum« schon so ein Hin und Her gegeben hatte. Im löblichen Anliegen, Autoren nicht zu schaden, nahm Literaturkritik unter den Bedingungen der Zensur selber Schaden. Denn statt Fragen der Literatur aufzugreifen und in öffentlichen Diskurs zu bringen, übte sie sich im Verschweigen oder gar Missverstehen. Im ND, 1975, wurde »Eine Übertretung« als Grenzfall »in doppeltem Sinne« gewertet. »Der makabre Humor, mit dem geschildert wird, wie eine Greisin im Auto zwischen den Grenzen von DDR und BRD sterben zu müssen vermeint, korrespondiert mit der Situation des Autors, der sich anschickt, die Sphäre, in der er zu Hause ist, zu verlassen.«

Und konnte, durfte es denn sein, dass ein Mann wie Kant gegen das DDR-Grenzregime aufmuckte? Immerhin war er Vizepräsident, später Präsident des Schriftstellerverbandes, saß neben dem »Höchsten« auf manchem Ehrenpodium – wie Hauptbuchhalter Farßmann in »Bronzezeit«. Dass er sich mitunter fühlte wie Farßmann, der schon in »Der dritte Nagel« vorkam, dort »nur« Buchhalter war, der diversen Leuten diverse Wünsche erfüllte und sich am Schluss fragen musste: »Wo blieb bei diesem Handel ich?«, das sah man nicht. Was sah man schon von Leuten, die im Präsidium saßen, das als monolither Block wahrgenommen werden sollte. Wer neben dem »Höchsten« saß, musste mit diesem fallen. Kant war da ohne Illusion.

Mit einem kühnen Streich hatte sich Farßmann in »Bronzezeit« von der Tribüne herunterkatapultiert. Ein grimmiges Stück Prosa, dermaßen gespickt mit Anspielungen, dass man sich wundert, wieso es überhaupt erscheinen konnte. Nicht nur, dass »Herrmann« und »Scharrbowski« und sogar »die beiden Küsser« drin vorkamen, der wachsende »Sektor Ruhm und Ehre« in der DDR, während in Wirklichkeit vieles verkam, sprachmächtig auf die Schippe genommen war, der Autor spricht auch von eigener Befindlichkeit. »Denn der Widerwille gegen den Platz überkam mich stark wie selten«, denkt Farßmann, als er in sein Hauptbuchhalter-Zimmer kommt. »Den Posten, wußte ich, wollte ich nicht geschenkt, und selbst nur geborgt, gewann er nicht an Reizen. Zwar war es geräumiger hier, aber für die Oberen hieß man Buchhalter, und von den Unteren wurde man zu den Häuptlingen geschlagen.«

Der Mast, das Podium und schließlich die Rüttelstraße, auf der es sich nicht angenehm fährt, die aber auf wundersame Weise von einem Gichtanfall befreit. »Patchwork« heißt die letzte bisher unveröffentlichte Geschichte im Band, den man daraufhin geneigt sein könnte, »Patchwork eines Lebens« zu nennen. Aber das stimmt weder in Bezug auf den Autor noch auf diese Textauswahl, die doch sehr deutlich auf eine Lebenslinie hin angelegt ist. Zwar fühlt sich Kant in seinem Haus in Prälank manchmal, in trüben Momenten, wie einer, der wie Jan G. aus »Der Mann von Frau Lot« mit dem Rücken zum Fußballfeld steht. Aber da bleibt nichts übrig, als sich an den Müllersburschen vor dem Glasberg zu erinnern und sich immer mal wieder an den eigenen noch verbliebenen grauen Haaren aus Sümpfen der Traurigkeit zu ziehen. Denn, wie es schon in der frühen Erzählung »Gold« hieß: »Leben heißt Nüsseknacken ... Wir langweilen uns nicht gerne.«

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