Stare und Nahtstellen

ALEXANDER KLUGE bohrt harte Bretter – er erzählt Politik

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Zivilisatorische ist »einer durchsichtigen Eisdecke vergleichbar, unter der sich der grausame Zug der Realitäten bewegt«. Die Berufspolitik schlittert über dieses Eis, wie alle darüberschlittern – aber: Sie wähnt sich wohl als Befestiger jener Grundfläche, auf der sich der Status quo, den sie verwaltet, zum Dauerzustand entwickeln soll.

Alexander Kluge beleuchtet in seinen Geschichten das Geschäft des Politischen – in einer Zeit, welche das Politische auf die Politik von Geschäften reduziert hat. Er erzählt vom Charisma der Überraschung, die sich in den Planungen der Befehlshaber einnistet. Einmal ist die Rede von der praktischen Erfahrung, »die alles nach Wahrscheinlichkeiten ausgleicht«. Und worin besteht sie, diese Überraschung? In den stets aufs Neue absehbaren Einbrüchen des Konkreten in die allwaltende Arroganz der Abstraktion bei Mensch- und Weltenlenkung. Immer wieder erscheint oben auf den Thronen als Plötzlichkeit und Undenkbarkeit, was unten an den Küchentischen längst vorausgetuschelt wurde: Stimmungsumschwung, Stolpersteine, Sturz.

Dass zum Beispiel Stare aus Kanada US-Rindern verhängnisvoll häufig die Körner wegfressen, wird Kluge zum Anlass, über das Problem der Nahtstelle nachzudenken; in diesem Falle ist die überfliegbare Landesgrenze die Nahtstelle, die Konflikte auslöst. Nahtstellen aber, an denen sich in der Weltpolitik teuflisches Katastrophenmaterial ansammelt, werden jedoch, so die Erfahrung, kaum beachtet. »Weil Organisationen nur Hauptsachen beachten.« Das ist ein Beispiel für die elegante, verblüffende Blitzartigkeit, mit der Kluge von scheinbar abseitigsten Lebensbeobachtungen in die Großsphäre der Politik vorstößt.

Das Politische wird erzählt als »Aggregatzustand alltäglicher Gefühle«, zu denen sich die Elite des Handelns jedoch seit Jahrhunderten in erstaunlich kontinuierlichen Gegenbewegungen verhält. Bewegungen, die regelmäßig ins Unglück der Unbestimmtheit führen, was der Mensch eigentlich sei, wenn er Politiker ist? Was bedeutet es in dieser Tätigkeit, Instinkt zu haben, Augenmaß zu besitzen? Mit wie vielen Zungen muss ein Politiker reden können? Der nur dann nicht überfordert wäre mit Aufgaben, wenn, so Kluge, Menschen Parallelrechner wären.

Schnittstellen und Lücken von Geschichtsabläufen treiben im Buch eine Fabulierkraft an, die sich nichts sagen lässt vom Überdruck der Fakten. Dass etwas eintreten könnte oder als Möglichkeit auch nur angenommen werden könnte, macht es bei Kluge kostbarer, als es tatsächlich sein wird.

Diese Prosa, die zu Chruschtschow und Mussolini schaltet, zu Napoleon und Regisseur Stanley Kubrick, ist ein Strom aus unzähligen Quellen, der sich seinen Weg durch die Geschichte sucht und der von den Rändern kleinste Partikel Leben mitreißt, sie in Strudel verwickelt, sie auf dunkle Gründe sickern lässt oder sie unterwegs, an fremden Ufern, wieder ablegt – wie eine Botschaft, aus einem Zusammenhang in einen neuen Zusammenhang getaucht.

Diese Fetzen sind alles: fiktiver Dialog, Report, Anekdote, Konferenzbericht, Tagebuch; für Kluge ist es keine Schwierigkeit, zwischen den Jahrhunderten zu springen. Diesem großen Naiven ist die verschwitzte Schöpfung der politischen Gegebenheiten ein Marktplatz der Metaphysik – den er als Ingenieur der Kopplungen und Verzahnungen mit der ganzen Leidenschaft eines staunend Begreifenden durchstreift. Er berichtet von den Erfahrungen, die quer liegen zur landläufigen Einteilung der Dinge. Er hat ein radikal sucherisches Interesse am Rohstoff. Er findet einen literarischen Ausdruck für den Assoziationsfilm, der seit Jahrtausenden durch Köpfe läuft; dies unbekannte große Kinoprogramm, das Geschichte so ganz anders schreibt als der Lehrstoff in den Schulen der Geläufigkeit.

Elementarteilchen aus Kriegen und Konferenzen und Kabinettssitzungen und Konfliktsituationen fliegen umher; Kluge wäscht ihnen den Stempel des Tatsächlichem oder des Erfundenen vom Körper (was ist schon wahr?!), und dies in frappierender sprachlicher Nüchternheit, als stünde er auf fernstem Planet am Fernrohr. »Ichlose Vielfalt« hat der Autor einmal seine Einfühlungskraft ins Sphärische historischer Abläufe genannt, eine Einfühlungskraft, die gleichsam den Wissenschaftler auf faszinierende Weise mit dem Fantasten befreundet hält.

Man kann diese Geschichten nicht mit dem Lasso der unablässigen Lektüre fangen, kann sie nicht behandeln wie einen Roman, vorn beginnen, dran bleiben und geduldig das Ende herbeilesen. Es ist ein Buch mit Pausenerlaubnis. Man kann nur zappen, und ausnahmsweise verliert der Begriff seinen Makel.

Alexander Kluge: Das Bohren harter Bretter. 133 politische Geschichten. Suhrkamp Verlag. 380 S., geb., 24,90 €.

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