Kubaner reden über Reformen mit

Breite Debatte in Bevölkerung vor Parteitag

  • Dalia Acosta und
  • Lesedauer: 4 Min.
Ivet González (IPS), Havanna

In Kuba haben sich vor dem 6. Parteitages der Kommunistischen Partei Millionen Bürger an den öffentlichen Anhörungen über den künftigen wirtschaftlichen und sozialen Reformkurs des sozialistischen Inselstaates beteiligt.

Den Teilnehmern der Debatte ging es in erster Linie um Fragen, die ihr Leben unmittelbar betrifft, etwa die Zukunft der »libretas«, der in den 60er Jahren eingeführten Bezugskarten für rationierte Waren und Lebensmittel zu Vorzugspreisen, oder die drohenden Entlassungen in Staatsbetrieben. Nach Angaben der Tageszeitung »Granma« wurden während der Anhörungen 619 387 Vorschläge, Anregungen und kritische Meinungen gesammelt.

Wie Marino Murillo Jorge, Vizepräsident des kubanischen Ministerrats, bekannt gab, hatten bis zum 7. Februar mehr als sieben Millionen Kubaner an den von der Partei einberufenen Sitzungen teilgenommen, um die »Richtlinien der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Partei und der Revolution« zu diskutieren, das zentrale Dokument des bevorstehenden Parteitags der Kommunisten. Der seit 2002 mehrmals verschobene Kongress wird Staatspräsident Raúl Castro zufolge die Vorschläge der Bürger bei der Annahme des Dokuments berücksichtigen.

Viele Kubaner hatten zunächst erstaunt auf die Ankündigung Castros reagiert, eine öffentliche Diskussion zu dem Thema einzuleiten. In Expertenkreisen wird es allerdings als konsequent und richtig betrachtet, dass die Regierung den künftigen ökonomischen Kurs zu einem Beratungsschwerpunkt macht. Beobachter halten es für geboten, dass die Regierung die bisherigen improvisierten Wirtschaftsmaßnahmen zu einer klar definierten Strategie weiterentwickelt. Unter die Epoche des real existierenden Sozialismus müsse endlich ein Schlussstrich gezogen werden, hieß es. Stattdessen sollten die gegenwärtigen Bedürfnisse des Landes berücksichtigt werden.

Gemäß den KP-Richtlinien sollen die Staatsunternehmen nach wie vor der tragende Pfeiler der Wirtschaft bleiben. Andererseits sollen aber auch gemischte Kapitalgesellschaften und Kooperativen zulässig sein. Der Staat will zudem Bauern das Recht geben, brach liegendes Land zu nutzen. Kubaner dürfen außerdem Wohnraum vermieten und als Selbstständige arbeiten. Ziel sei es, »die Effizienz der sozialen Arbeit zu steigern«, betonen die Richtlinien.

Mariela Castro Espín, eine Tochter von Staatspräsident Raúl Castro und der verstorbenen Frauenaktivistin Vilma Espín, hält die Umgestaltung der kubanischen Wirtschaft in Krisenzeiten für ein äußerst schwieriges Unterfangen. Angesichts der für die Bevölkerung prekären Lage könnten Subventionen nicht von heute auf morgen abgeschafft werden, warnte die Leiterin des Nationalen Zentrums für Sexualerziehung. »Ausschlaggebend für eine demokratische Gesellschaft ist die Bürgerbeteiligung«, sagte Castro Espín. »Die Tatsache, dass diesem Aspekt (durch die Anhörungen) die Bedeutung beigemessen wird, die er verdient, erfüllt mich mit der Hoffnung, dass wir einen Weg einschlagen, der dem Sozialismus, wie ich ihn verstehe, näher kommt.«

»Wir sind es nicht gewohnt, tiefgehende Diskussionen zu führen. Wir sind es eher gewohnt, Anweisungen zu folgen«, meinte hingegen der Essayist Fernando Martínez Heredia in Anspielung an eine weit verbreitete Kritik, der Mangel an Eigenständigkeit vieler Kubaner stehe dem politischen Wandel im Wege. Als positiv bewertete Martínez Heredia jedoch eine Rede des Staatspräsidenten vom vergangenen Dezember. Darin hatte Castro von einem erhöhten Diskussionsbedarf und der Notwendigkeit gesprochen, dass die Verantwortlichen im Lande ihren Verpflichtungen nachkommen müssten.

Der Mangel an Bürgerpartizipation und Kontrolle gilt als historischer Schwachpunkt des kubanischen Politikmodells. Jetzt stellt er nach Ansicht von Kennern das größte Hindernis für den Transformationsprozess dar. Denn der Widerstand gegen das neue Wirtschaftsmodell kommt vor allem aus den personell aufgeblähten Staatsbetrieben, in denen die Beschäftigten um ihre bislang sicheren Arbeitsplätze fürchten.

Die Diskussionen der letzten Monate über den neuen Wirtschaftskurs beschränkte sich jedoch nicht nur auf die von der KP organisierten Anhörungen. Vertreter der Zivilgesellschaft nutzten inoffizielle Kanäle wie Internet, Blogs, soziale Netzwerke und vor allem E-Mails, um ihre Vorstellungen eines künftigen Kubas zu unterbreiten. Bürgerinitiativen wie die Schwarzenvereinigung Cofradía de la Negritud und das Red Protagónica Observatorio Crítico, – ein Netzwerk, das sich für Sozial- und Kulturprojekte engagiert – forderten in Online-Foren, bei der Festlegung des politischen Fahrplans auch Fragen wie Rassismus, Gleichberechtigung, Klimaschutz und freien Informationszugang zu berücksichtigen.

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