Streitfrage: »Nur zurück zum rot-grünen Atomkompromiss?«

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Unter dem Eindruck der atomaren Katastrophe in Japan, die das Unglück von Erdbeben und Tsunami potenziert, hat die Bundesregierung die vorübergehende Stilllegung von acht Atomkraftwerken verfügt und ein dreimonatiges Moratorium verhängt. In dieser Zeit sollen die Meiler einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen werden. Eine Ethikkommission soll zudem Risiken und einen „Atomausstieg mit Augenmaß“ diskutieren, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte. Ist es so kompliziert? Oder sind nicht alle Risiken längst bekannt und der einzige Ausweg – der Ausstieg? Die Frage wird deshalb wieder lauter, ob man sich mit dem Kompromiss zufrieden geben soll, den Rot-Grün 2002 ins Gesetz schrieb.

Der Ausstieg muss beschleunigt werden

Von Jürgen Trittin

Ich habe mit vielen anderen schon vor über 30 Jahren in Brokdorf, Kalkar und im Wendland demonstriert. Uns ist es damals gelungen, einen Baustopp für neue Atomkraftwerke durchzusetzen. Mit Klagen und Auflagen haben wir vergeblich versucht, AKWs auf Dauer stillzulegen. Erst mit dem Atomkonsens ist es gelungen, die ersten bestehenden Atomkraftwerke vom Netz zu bekommen. Heute ist klar: Die damals heftig umstrittene Vereinbarung über das Ende der Atomkraftnutzung war die entscheidende Zäsur in der deutschen Energiepolitik. Trotz seines Kompromisscharakters hat der rot-grüne Atomausstieg entscheidend dazu beigetragen, die Energiewende zugunsten erneuerbarer Energien, Klimaschutz, zukunftssicherer Arbeitsplätze und technischer Innovation voranzubringen.

Wir mussten erleben, dass die Betreiber die erste Gelegenheit nutzten, ihr Wort zu brechen. Wir mussten erleben, dass Schwarz-Gelb gegen den massiven Widerstand unzähliger Menschen und mit einem Verfassungsbruch den Atomausstieg rückgängig machte. Wir Grünen haben in den Parlamenten und auf der Straße Druck gemacht – zusammen mit der Anti-Atom-Bewegung, mit Umweltverbänden, Gewerkschaften, Unternehmen, Stadtwerken und Kirchen. Und wir haben vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt, um den gefährlichen Irrweg einer Laufzeitverlängerung juristisch zu Fall zu bringen.

Die mehrfache Atomkatastrophe von Fukushima hat mir drastischer, als ich es jemals befürchtet habe, ins Bewusstsein gerufen, warum ich mich wie so viele andere von Beginn an gegen die Atomtechnologie zur Wehr gesetzt habe. Denn für dieses lange Engagement gibt es einen einfachen Grund: Die Atomkraft ist eine Technik, bei der nichts schief gehen darf, und daher ist sie nicht verantwortbar.

Man darf angesichts der schrecklichen Bilder aus Japan nicht beim Erschrecken stehen bleiben. Wir müssen so schnell wie möglich raus aus der Atomenergie. Endgültig. Das Restrisiko ist nach Fukushima nicht mehr verantwortbar.

Jetzt gilt es, die Risiken realistisch darzustellen – auch in Deutschland. Das im Rheingraben stehende AKW Biblis war jahrelang nicht gegen die dort möglichen Erdstöße sicher, weil über tausend armdicke Dübel falsch montiert waren. Im AKW Philippsburg war jahrelang das Wasser für die Notkühlung nicht korrekt mit Bor versetzt. 2001 kam es im AKW Brunsbüttel zu einer Wasserstoffexplosion.

Es ist keine neue Forderung der Grünen, die Laufzeitverlängerung sofort rückgängig zu machen und die sieben Uralt-AKWs plus den Pannenreaktor Krümmel jetzt und endgültig stillzulegen. Die Neubewertung macht es aber notwendig, weiter zu gehen. Auch das Tempo des von mir vor Jahren mit ausgehandelten Ausstiegskonsenses muss heute beschleunigt werden. Zum einen wegen der neuen, erschütternden Erkenntnis über die Verletzlichkeit von Atomkraftwerken. Zum anderen, weil die Möglichkeiten für eine radikale Umkehr in der Energiepolitik durch die vor gut zehn Jahren eingeleitete Energiewende so erfolgversprechend sind wie nie.

Heute können wir binnen weniger Jahre sämtliche Atomkraftwerke ersetzen, und zwar ohne die Klimaschutzziele zu reißen, ohne Strom zu importieren und ohne dass der Strom unbezahlbar wird. Wir müssen aber jetzt und unmittelbar die Bedingungen dafür schaffen. Jeder Tag des Zögerns und Zauderns ist ein verlorener Tag für die notwendige beschleunigte Energiewende.

Die Bundesregierung hat schnell auf die neue Situation reagiert, aber nichts entschieden. Ihr Plan, soweit er bisher überhaupt erkennbar ist, erscheint perfide. Sieben Atomkraftwerke sollen jetzt vorübergehend vom Netz, genau jene sieben, über deren Sicherheitsmängel seit Jahren unzählige Fakten vorliegen. Doch ob sie im Sommer wieder hochgefahren werden, lässt Frau Merkel bewusst im Dunkeln. Ebenso, was mit den immensen Reststrommengen geschieht, die Merkel, Röttgen und Brüderle den Schrottreaktoren mit der Laufzeitverlängerung geschenkt haben. Werden sie im Falle einer endgültigen Stilllegung auf jüngere Reaktoren übertragen, wie es das noch geltende Gesetz vorsieht, dann könnten noch nach 2050 in Deutschland Atomkraftwerke in Betrieb sein. Eine Horrorvorstellung, die nicht Realität werden darf.

Wir müssen in die andere Richtung. Unverzüglich müssen jetzt die rechtlichen und finanziellen Voraussetzungen geschaffen werden, um den Ausstieg aus der Atomkraft bis spätestens zum Ende der nächsten Wahlperiode zu vollenden. Außerdem brauchen wir ein Sofortprogramm für den beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien, für Investitionen in Energieeffizienz und Energieeinsparung sowie für die Schaffung einer modernen Infrastruktur.

Das alles wird Geld kosten. Doch mit jedem öffentlichen Euro werden in mehrfacher Höhe Einahmen für Industrie und Gewerbe sowie Aufträge für das Handwerk ausgelöst. Dennoch: Strom muss bezahlbar bleiben. Und dazu werden neben der Energieeinsparung auch die erneuerbaren Energien ihren Beitrag leisten. Schon heute senken sie die Handelspreise für Strom. Durch den beschleunigten Ausbau wird sich dieser Effekt noch verstärken. Stabile Strompreise erhält man nicht durch die Zementierung der überkommenen Energieversorgungsstruktur, sondern durch mehr Wettbewerb und das Aufbrechen der Vormachtstellung der vier Atomkonzerne im Land. Dafür werden wir Grüne mit aller Kraft kämpfen.

Jürgen Trittin, Fraktionschef der Grünen im Bundestag, handelte als Bundesumweltminister der rot-grünen Bundesregierung den Ausstiegskompromiss mit der Atomindustrie mit aus.

Sofort ist nötig und möglich

von Jochen Stay

Horst Seehofer hat es in der Tagesschau vom 14. März auf den Punkt gebracht: »Alles was möglich ist, muss ausgeschlossen sein.« Bisher, so der bayerische Ministerpräsident, war sein Kriterium dafür, ob das AKW Isar 1 bei Landshut weiterbetrieben werden kann, wie groß die Wahrscheinlichkeit sei, dass ein Verkehrsflugzeug auf den Reaktor stürzt. Da diese Wahrscheinlich gering ist, war er bereit, das Risiko zu verantworten. Nach Fukushima, so der CSU-Vorsitzende, sei sein neuer Maßstab, ob es denn grundsätzlich die Möglichkeit gibt, dass ein Flugzeug das AKW trifft. Und da diese Möglichkeit nicht auszuschließen ist, müsse Isar 1 vom Netz.

Wendet man nun dieses Seehofersche Gesetz auf alle 17 AKW in der Bundesrepublik an, dann bleibt kein einziges übrig. Überall kann die Kernschmelze passieren, überall kann die Notstromversorgung ausfallen und das Kühlsystem kollabieren. Die Wahrscheinlichkeit ist zwar gering, aber es ist eben möglich. Wenn es dann also doch zu der berühmten Verkettung unglücklicher Umstände kommt, sind die Folgen katastrophal. Krümmel liegt direkt vor den Toren Hamburgs, Biblis im Ballungsraum Rhein-Main-Neckar.

Werden bei ICEs oder der Berliner S-Bahn Sicherheitsmängel festgestellt, dann werden die entsprechenden Fahrzeuge außer Betrieb gesetzt, egal, ob die Mobilität in der Gesellschaft darunter leidet. Wenn also, wie die Kanzlerin und ihr Umweltminister stetig behaupten, Sicherheit absoluten Vorrang hat – dann ist es jetzt eben nötig, alle AKW stillzulegen, selbst wenn es dadurch zu Engpässen in der Stromversorgung käme. Wie wir gerade aus Japan lernen müssen, kehrt sich die alte Drohung, ohne Atomkraft gingen die Lichter aus, auf bittere Weise um: Denn rund um Fukushima gehen die Lichter ja gerade deshalb aus, weil das Land auf die Risikotechnologie Atomkraft gesetzt hat.

Hierzulande – die Szenarien liegen seit Jahren in den Schubladen – ist auch ein Ausstieg aus der Atomenergie von heute auf morgen möglich, ohne dass die Stromversorgung zusammenbricht. Alleine die Überkapazitäten im deutschen Kraftwerkspark lassen mindestens neun AKW entbehrlich werden. Durch geschicktes Spitzenlast-Management lässt sich der nötige Höchstverbrauch an Strom minimieren und weitere Reaktoren werden obsolet. Energiesparprogramme und der beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien tun ein Übriges. Wer jetzt also noch zurück zum rot-grünen Laufzeitversprechen bis 2025 will, muss als radikaler Atomkraftbefürworter gelten.

Als wirkliche Brückentechnologie ins Zeitalter der Erneuerbaren bieten sich gasbetriebene Blockheizkraftwerke an. Die sind effizient, flexibel, haben geringen CO2-Ausstoß und lassen sich innerhalb kürzester Zeit auch in größeren Stückzahlen errichten. Bis dahin müssten wir bei einem sofortigen Atomausstieg vielleicht auf ein paar alte fossile Dreckschleudern zurückgreifen. Die Klimabilanz wäre aber nach einigen Jahren trotzdem positiv, weil die Energiewende ohne Atomkraft viel schneller geht und so auch die Stromerzeugung aus Kohle zügiger beendet werden kann.

Welchen Einfluss das auf die Strompreise hat, ist umstritten. Denn je schneller eine dezentrale Energiestruktur entsteht und die vier großen Stromkonzernen E.on, RWE, Vattenfall und EnBW dadurch Marktmacht verlieren, umso weniger können sie die Preise diktieren. Und der Strom aus Wind und Sonne wird Jahr für Jahr günstiger und nicht teurer. Ein radikaler energiepolitischer Kurswechsel wäre gleichzeitig ein riesiges Konjunkturprogramm. Schon jetzt explodieren die Arbeitsplatzzahlen im Bereich erneuerbarer Energien.

Der Sofortausstieg ist also nötig und möglich. Wenn nun Umweltorganisationen und Oppositionsparteien Szenarien entwickeln, wie wahlweise bis 2015, 2017 oder 2020 ausgestiegen werden kann, dann sind sie in ihrer Abwägung deutlich weniger konsequent als Horst Seehofer. Dann sagen auch sie streng genommen nichts anderes als die Atomkraftbefürworter: »Wird schon gut gehen.«

Mir ist auch klar, dass es bei diesen Konzepten in erster Linie darum geht, den skeptischen Teil der Bevölkerung mitzunehmen, die sich vor Stromlücken und teuren Energiepreisen fürchten. Realpolitisch ist dieses Vorgehen vielleicht sogar erfolgreich. Aber es macht auch ein Stück unglaubwürdig. Nur deshalb konnte die Kanzlerin neulich im Bundestag genüsslich darauf hinweisen, dass dank dem rot-grünen Atomgesetz von 2002 heute noch mehr AKW am Netz wären als jetzt, während des Merkelschen Moratoriums.

Von alleine wird der Ausstieg nicht kommen. Aber wenn weiter so viele Menschen gegen Atomenergie auf die Straße gehen wie in den letzten Wochen, dann ist es möglich, die lavierende Bundesregierung zu einem wirklichen energiepolitische Kurswechsel zu zwingen. So viel Chance war nie …

Jochen Stay, Sprecher der Initiative »ausgestrahlt«, ist seit Jahren in der Anti-AKW-Bewegung und besonders bei den Protesten gegen Atomtransporte engagiert.
Jürgen Trittin
Jürgen Trittin
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