Liebesrausch im Blumengarten

Vor 250 Jahren wurde erstmals experimentell bewiesen, dass auch Pflanzen Sex haben

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Jahr 1759 stiftete die Petersburger Akademie der Wissenschaften einen Preis für die Beantwortung der Frage: Gibt es Sexualität unter Pflanzen? Zwar hatte der Tübinger Arzt Rudolf Jakob Camerarius schon 1694 festgestellt, dass reife Samen nur dann entstehen, wenn die Narbe mit Pollen bestäubt wird. Umstritten war jedoch die Funktion der Pollenkörner im Prozess der Vererbung. So waren nicht wenige Naturforscher der Auffassung, dass zwischen Pflanzen gar kein Sex stattfinde und der Blütenstaub lediglich eine Art Nährstoff sei. Andere wiederum gingen im Anschluss an Aristoteles davon aus, dass der (männliche) Pollen allein die Eigenschaften der »Pflanzenkinder« bestimme, während die weiblichen Organe der Blüte nur als Gefäß für das Wachstum der männlichen Erbanlagen dienten.

Es war der deutsche Botaniker Joseph Gottlieb Kölreuter (1733- 1806), der vor 250 Jahren erstmals daran ging, die pflanzliche Vererbung im Experiment systematisch zu untersuchen. Nach mehreren erfolglosen Versuchen gelang ihm 1760 die kreuzweise Bestäubung von zwei verwandten, aber klar unterscheidbaren Nelkenarten. Dabei beobachtete er, dass die Blüten der Nachkommen weder den Blüten der Väter noch jenen der Mütter glichen, sondern einer Mischung aus beiden ähnelten. Folglich mussten sowohl väterliche als auch mütterliche Anlagen an der Vererbung beteiligt gewesen sein. Die Auffassung, dass »in dem Eierstocke der Tiere und Pflanzen« erst der männliche Samen den Embryo belebe, sei damit widerlegt, schrieb Kölreuter 1761, dessen sorgfältige Versuche nur einen Schluss zuließen: Auch Pflanzen haben Sex.

Obwohl Kölreuter damit den Preis der Petersburger Akademie gewann, stießen seine Auffassungen in der Fachwelt auf Widerstand. »Noch 1812 und 1820 wurden gelehrte Bände veröffentlicht, in denen die Existenz der (pflanzlichen) Sexualität geleugnet und die Glaubwürdigkeit von Kölreuters Experimenten in Zweifel gezogen wurde«, schreibt der bekannte Evolutionsforscher und Biologiehistoriker Ernst Mayr.

Dass die Idee der pflanzlichen Sexualität so lange als »lasterhaft« und »obszön« galt, lag nicht zuletzt an dem schwedischen Naturforscher Carl von Linné, der sich bei seinem ersten Entwurf einer botanischen Systematik (1735) vorrangig an den geschlechtsspezifischen Blütenmerkmalen orientiert hatte. Danach war die Zahl der männlichen Staubgefäße maßgeblich für die Klasse, in die eine Pflanze gehörte, während die Zahl der weiblichen Stempel die Ordnung festlegte. Bedenkt man, dass in der Taxonomie die Klasse über der Ordnung steht, gab Linné – im Einklang mit den damaligen sozialen Verhältnissen – der Männlichkeit den Vorrang bei der Klassifizierung der Organismen.

Dennoch waren namentlich die vatikanischen Glaubenswächter über Linnés System empört. Dieses untergrabe die christliche Moral, hieß es gelegentlich, und unterstelle Gott, er habe die Pflanzenwelt auf eine »beschämende Hurerei« gegründet. Ohne Zweifel ging Linné im Bereich der Botanik mit menschlichen Begriffen recht sorglos um. So bezeichnete er beispielsweise die Befruchtung als ehelichen Akt sowie die Staubgefäße und Stempel als Ehemänner und Ehefrauen. Die Blütenblätter stellten für ihn das Brautbett und unfruchtbare Staubblätter schlicht Eunuchen dar. Was Linnés Widersacher jedoch am meisten beunruhigte, war das Faktum, dass in vielen Blüten auf einen Stempel zehn und mehr Staubgefäße kommen. Im übertragenen Sinn dominiert also in der Pflanzenwelt ein Phänomen, das unter Menschen nur selten zu beobachten ist: die Vielmännerei, auch Polyandrie genannt. Eine derart große Zahl von Ehegatten für eine Frau, wetterte 1737 der Petersburger Botaniker John Amman, widerspreche »den Gesetzen und Sitten unserer Bürger« aufs Gröbste.

Während Linné, der alles andere als ein Sexualreformer war, solche Worte vermutlich nicht gern hörte, verletzte ein anderer Naturforscher die sexuellen Konventionen mit Freude. Die Rede ist von Charles Darwins Großvater Erasmus Darwin, der 1789 ein Buch mit dem bezeichnenden Titel »The Loves of the Plants« (Die Lieben der Pflanzen) veröffentlichte – zunächst anonym, später unter seinem vollen Namen. Darin stellte Darwin in zahlreichen Versen neben der Ehe auch andere Geschlechtsbeziehungen freimütig dar. So heißt es etwa über die Polyandrie, dass »Meadia«, ein Primelgewächs, mit »wollüstiger Miene« ihre dunklen Augen rolle und dabei jeden ihrer fünf Liebhaber belohne. Aus der Tatsache, dass einige Pflanzen (etwa die Zitronenmelisse) zwei lange und zwei kurze Staubblätter besitzen, machte Darwin kurzerhand eine botanische Sozialordnung: »Zwei Ritter huldigen dir Seit' an Seit' / Melissa! Und zwei Knappen stehn bereit.« Aber auch weniger ansehnliche Pflanzen sollten nach Darwin ein Recht auf Sex haben, und sei es »in der Erde dunklem Höhlenreich«, wo »die züchtige Truffelia sich ergibt / dem Gnomengatten, den sie innig liebt«.

Wie sich denken lässt, wurde Erasmus Darwin wegen seiner liberalen Haltung zur Sexualität von der Kirche scharf attackiert. Gleichwohl fanden seine Schriften in England reißenden Absatz. Das betraf nicht zuletzt sein 1794 erschienenes Werk »Zoonomia«, in dem er die Vermutung äußerte, dass alles Lebendige auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehe und es daher möglich sei, einen Stammbaum aller Lebensformen zu konstruieren. 65 Jahre später griff sein Enkel Charles diese Idee erneut auf und machte sie zum Bestandteil dessen, was wir heute Darwinsche Evolutionstheorie nennen.

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