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  • 9. ND-LESERGESCHICHTEN-WETTBEWERB

Mein Leben in vollen Zügen – im Eiltempo

  • Lesedauer: 4 Min.

»Leben in vollen Zügen« – Wer hat sich bloß dieses Thema ausgedacht? Wo kann ich denn da etwas abschreiben? Da werde ich mir wohl oder übel selbst etwas einfallen lassen müssen. Aber das dürfte ja nicht allzu schwer sein, denn am Anfang steht schon ein Leben in vollen Zügen.

Bekanntlich kommt der Mensch doch als Trinker zur Welt. Ohne Mutterbrust oder Flasche würde niemand auch nur ein Lebensjahr erreichen. Und selbst im Alter, wo ich bald in den letzten Zügen liege, werde ich oft noch ermahnt, genügend zu trinken. Wen wundert's, wenn mancher glaubt, das Leben dazwischen auch nur im Suff ertragen zu können? Wohl dem aber, der immer genug zu trinken hat. Nicht einmal das ist leider in unserer Welt selbstverständlich. Das bekam ich schon als Kind im Kriege zu spüren.

Hätte meine Mutter nicht 1944 bei eisiger Kälte ein Leben in vollen Zügen riskiert, um mit uns Kindern aus der Festung Breslau zu flüchten, wäre meine Geschichte bestimmt hier schon zu Ende. So aber gelangten wir nach langer Irrfahrt zu Verwandten und konnten später noch öfter auf verschiedene Weise ein Leben in vollen Zügen führen.

Den ursprünglichen Sinn der Redewendung erlebte ich jedoch erstmals, als unsere Familie bei einer Einheit der Roten Armee zur Siegesfeier eingeladen war. Dort bekam mein Vater ein volles Wasserglas in die Hand gedrückt, ohne zu wissen, dass es 70-prozentiger Selbstgebrannter war. Als die Gläser mit einem Toast auf das neue Leben in vollen Zügen geleert wurden, verdrehte mein Vater die Augen, schnappte nach Luft und drohte zu Boden zu gehen. Wir dachten, den Krieg hat er überlebt und nun sei sein Ende gekommen. Ein Glas Wasser löschte aber den Brand in der Kehle.

Ich musste die Feuertaufe erst Jahre später bestehen, war aber gewarnt. Bald endete für uns die turbulente Nachkriegszeit in Schlesien. 1947 wurden wir nach Deutschland ausgesiedelt. So leidvoll die Willkür der Transporte und das Leben in vollen Zügen waren, eine Gleichsetzung mit den Massentransporten in die Arbeits- und Vernichtungslager der Nazis verbietet sich. Im Gegenteil, obwohl ich die immer wieder stattfindende Vertreibung ganzer Völker verurteilte, bewundere ich heute in gewisser Weise die logistische Leistung, trotz vom Kriege zerstörter Infrastruktur in kurzer Zeit Millionen Menschen auf Deutschland zu verteilen und unterzubringen.

Mein Neuanfang begann im zerstörten Dresden. Mit 17 ging ich zur Schule und nahm bald ein Studium auf. Die Züge zum Lehrerseminar nach Zwickau waren übervoll durch die Kumpel, die selbst noch auf den Trittbrettern in die Urangruben der Wismut fuhren. Einmal zum Beispiel erlebte ich das Leben in vollen Zügen nur, weil die Mitstudenten, die sich schon im Zugabteil drängten, mich kopfüber durch das Fenster zerrten.

Noch viel gäbe es aus der vollbrachten Arbeit und der gegründeten Familie über das Leben in vollen Zügen zu berichten. Neue Möglichkeiten und Überraschungen brachte die deutsche Einheit. Viele, die sich ein Leben in vollen Zügen versprachen, wurden enttäuscht.

Erstmals nach 60 Jahren fuhr ich meinen Cousin besuchen, den die Aussiedlung ins Sauerland verschlagen hatte. Statt des Autos wählte ich das bequemere Leben in vollen Zügen. Ein ICE, der trotz merkwürdiger Geräusche weder Rad noch Tür verlor, brachte mich mit reichlich Verspätung ans Ziel. Das Wiedersehen war freudig und nachdenklich. Mein Cousin hat seinen Studienwunsch nicht verwirklichen können, war durch schlechten Arbeitsschutz Frühinvalide geworden, besitzt ein Eigenheim und bekommt eine auskömmliche Rente.

Ich erwarb mehrere Hochschul- und Universitätsabschlüsse, überlebte anspruchsvolle Arbeiten, Berufsverbot und seit 1990 den Vorruhestand, wohnte immer bescheiden zur Miete und kann von der Rente manchmal auch eine Solidaritätsspende machen. Tauschen möchte ich nicht.

Jetzt genieße ich das Leben in vollen Zügen in der schönen Natur Mecklenburg-Vorpommerns, wehre mich gegen Umweltzerstörung, Massentierhaltung, Kriegseinsätze sowie alten und neuen Ungeist bis ich in den letzten Zügen liege.

Helmut Hauck
17129 Alt Tellin

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