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Der Pfarrer in der Bücherburg

Ein Pastor aus Niedersachsen hat in den vergangenen 20 Jahren Literatur aus der DDR vor der Vernichtung gerettet

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 6 Min.
Das Büchermagazin befindet sich im ehemaligen Speichergebäude der Burg- und Klosteranlage Katlenburg. Mit der Initiative des evangelischen Pfarrers ist die niedersächsische Gemeinde zu einem Ort der Begegnung geworden. Seit 1992 haben dort über 180 DDR-Autoren unter anderem im Rahmen der Reihe »Müll-Literaten lesen – Begegnungen mit ostdeutschen Autoren« ihre Werke vorgestellt.
Das Büchermagazin befindet sich im ehemaligen Speichergebäude der Burg- und Klosteranlage Katlenburg. Mit der Initiative des evangelischen Pfarrers ist die niedersächsische Gemeinde zu einem Ort der Begegnung geworden. Seit 1992 haben dort über 180 DDR-Autoren unter anderem im Rahmen der Reihe »Müll-Literaten lesen – Begegnungen mit ostdeutschen Autoren« ihre Werke vorgestellt.

Dass die Rettung von Büchern so etwas wie sein Lebenswerk werden würde, hätte Martin Weskott vor 20 Jahren nicht gedacht. Damals, im Mai 1991, stolperte der evangelische Pfarrer aus dem südniedersächsischen Katlenburg zufällig über ein Zeitungsfoto. Es zeigte eine Müllkippe bei Plottendorf in der Nähe von Leipzig. In der Kuhle lagen Abfälle und Gerümpel – und ein großer Haufen Bücher.

Weskott erschrak. »Dass in der Kulturnation Deutschland Literatur buchstäblich untergepflügt wird, hatte ich bis dahin nicht für möglich gehalten«, sagt er. In den politischen Turbulenzen von Wende und Wiedervereinigung hatten viele ostdeutsche Verlage und Buchhandlungen ihr gesamtes Sortiment auf den Müll kippen lassen – aus Angst vor Absatzproblemen oder auf Anweisung der neuen Besitzer. In der sich auflösenden DDR hatte nur noch Konjunktur, was aus dem Westen kam. Das galt auch für die Kultur.

Bis zum Beginn der Währungsunion im Juli 1990 hatte die Leipziger Kommissionsgesellschaft LKG in der DDR eine Monopolstellung als Lager- und Auslieferungsfirma des staatlich gelenkten Buchhandels. Die oft für einen langen Erscheinungszeitraum vorausgeplanten hohen Auflagen der jährlich produzierten 6500 Titel lagerten hier. Diese Restauflagen erwiesen sich in der Konkurrenz mit Westbüchern und allen anderen Westwaren als nicht absetzbar.

Die Entsorgung unter freiem Himmel war indes nur eine Form der Zerstörung. Im Herbst 1991 berichtete der Schriftsteller Dieter Mucke von fünfzigtausend Tonnen teilweise funkelnagelneuer Bücher – Klassiker, Kinderbücher, Fachliteratur, Werke zeitgenössischer Autoren –, die auf der Müllhalde Hainichen bei Espenhain entdeckt worden waren. Sie verfaulten unter einer meterdicken Erdschicht.

Mit einigen Mitstreitern aus der Kirchengemeinde machte sich Weskott umgehend auf den Weg nach Plottendorf. Die Katlenburger krochen durch ein Loch im Maschendrahtzaun auf den Müllplatz und starrten entsetzt auf die vom Schimmel angefressenen Bücher. »Die lagen da herum«, beschreibt der Pfarrer seinen ersten Eindruck, »als seien sie von einem Miststreuer ausgespuckt worden«. Halb bedeckt von Altpapier und Erde gammelte Heinrich Mann neben Arnold Zweig, Ernesto Cardenal neben Eduardo Galeano, Tolstoi neben Dostojewski. Beim Herumstöbern und -stochern fanden die Besucher weitere Werke. Horst Eberhard Richters »Die hohe Kunst der Korruption«, Stefan Heyms »Stalin verlässt den Raum« und Schriften des Preußenkönigs Friedrich II. Auf einer anderen Palette Bildbände über Volkskunst, den Dresdner Zwinger, Kinderbücher, Landkarten.

Viele Wagenladungen nach Niedersachsen

Mehr als 200-mal, schätzt Weskott, war er seitdem im Osten Deutschlands unterwegs. Er suchte und fand Bücher in Abfallcontainern und Hinterhöfen, in Kellern und Speichern, bei aufgegebenen Verlagen und in verrammelten Antiquariaten. Seine Schätze, mehrere hunderttausend Bände bis heute, transportierte der Pfarrer im Lastwagen eines befreundeten Getränkehändlers nach Katlenburg. Ein Ende der Bücherrettungsreisen in die nicht mehr neuen Bundesländer ist immer noch nicht abzusehen. »Wenn sich zum Beispiel keiner mehr findet, der die Restbestände aus einer früheren Betriebsbücherei betreuen will, dann klingelt hier das Telefon«, erzählt der Pastor. Inzwischen bekommt er aber Bücher auch aus dem Westen – Restexemplare von Verlagen etwa oder von Menschen, die bei sich zu Hause die Regale aussortieren.

Weskott will die Literatur aber nicht nur aufheben, sondern für Leser und Leserinnen verfügbar machen. Rund die Hälfte der von ihm nach Niedersachsen geschafften Bücher hat inzwischen neue Besitzer gefunden.

Sonntags nach dem Gottesdienst schließt Weskott das historische Magazingebäude neben der Kirche auf, in dem die Bücher lagern. Dann drängen sich Besucher aus nah und fern in dem engen Gewölbe. Sie stöbern in den Büchern, die in meterhohen Stapeln in provisorischen Regalen oder auf dem blanken Steinboden liegen.

»Hier rechts vom Eingang sind Bücher aus Wendezeiten«, erläutert Weskott sein Ablagesystem. »Da sind viele Titel dabei, die vorher nicht veröffentlicht werden konnten, zum Beispiel politische Publizistik und Aufsätze. Dann hier auf der langen Theke liegen die Mehrfachexemplare Belletristik, da sind auch viele Müllbücher dabei.« Die »Bücherburg«, wie Weskott sein Lager nennt, bietet einen kulturhistorischen Querschnitt durch das Leben in der DDR. »Etwas Vergleichbares«, sagt der Pfarrer, »gibt es in Deutschland nicht.«

Waschkörbeweise schleppen die Besucher den Lesestoff in ihre Kofferräume. Die Bücher kosten schließlich nichts. Nur um eine Spende für »Brot für die Welt« bittet Weskott. Mehr als 150 000 Euro hat der Pfarrer seit dem Sommer 1991 an die evangelische Hilfsaktion überwiesen.

Auch Universitäten, Bibliotheken und andere Einrichtungen aus dem In- und Ausland fragten in Katlenburg nach Literatur. Ein Apfelzüchterverband erbat Fachbücher zum Thema Obstanbau, der Bundesgerichtshof wollte juristische Standardwerke aus der DDR. Ein Physiker vom Max-Planck-Institut wühlte sich einen ganzen Tag lang durch Weskotts Bestände und schleppte schließlich 100 Titel in sein Institut ab. Er hatte in den DDR-Werken Hinweise auf Materialkombinationen entdeckt, die ihm zum Bau eines Spektral-Fotometers hervorragend geeignet erschienen. Mit dieser Apparatur rüstete das Max-Planck-Institut später die Saturn-Sonde Cassini aus.

Abgabe gegen Spende auch ins Ausland

Bis nach China ist Weskotts Müll-Archiv bekannt: Sie habe »von Ihrem spektakulären Bücherfund gehört«, schrieb eine Deutschlehrerin der Pekinger »Nanjing School of Foreign Language«. Und bat um Zusendung einiger Dutzend Bücher für die Schulbibliothek. »Lastwagenweise«, berichtet Weskott, habe er Bücher schon ins Ausland geschickt. Pakete gingen nach Russland und in die Ukraine, nach Albanien und nach Kuba, nach Sarajewo in Bosnien und ins serbische Novi Sad. 1995 übernahm ein eingetragener Verein, die »Gesellschaft zur Förderung von Kultur und Literatur«, die Trägerschaft der Bücher-Aktion.

Durch die Bücherrettung sei Katlenburg zu »einem riesigen Literaturarchiv, zu einem Ort der Begegnung mit deutscher Gegenwartsgeschichte« geworden, sagt der Pfarrer. Zu diesem Ruf haben auch die rund 200 so genannten »Müll-Literaten« beigetragen, die ihre Werke seit 1992 bei Lesungen im örtlichen Gemeindehaus vorgestellt haben.

Christa Wolf, Dieter Mucke, Erich Loest und Christoph Hein waren schon da, aber auch viele unbekanntere Schriftsteller. Ihnen hat Weskott mit seinen Einladungen ein Forum verschafft. »Leute, die bei den Lesungen dabei waren, haben jetzt ein ganz anderes Bild von DDR-Literatur«, ist der Pfarrer überzeugt. Viele Ost-Autoren seien zudem nach der Wende zu Unrecht in Vergessenheit geraten. Es habe viel mehr kritische Auseinandersetzung mit dem DDR-Alltag gegeben, als viele Westler wüssten. Katlenburg sei gleichwohl kein Ort für »Ostalgiker«. Die Bücher und ihre Autoren sieht Weskott vielmehr als wichtige Quellen und Gewährsleute für die deutsch-deutsche Geschichte.

Nachdem anfangs nur wenige Medien über die Bücherrettungsaktion berichtet hatten, kamen später auch Reporter großer Zeitungen, von Radio und Fernsehen nach Katlenburg. »Heute habe ich im Fernsehen den Bericht über Ihr Werk gesehen und hatte Tränen in den Augen«, schrieb Ende 2010 eine in der DDR geborene und aufgewachsene Frau ins Internet-Gästebuch der Bücherburg. »Ich habe selbst miterlebt, wie in meinem Dorf die Bibliothek, deren fleißiger Leser ich war, kurz nach der Wende aufgelöst und die Bücher zum Wertstoffhof verbracht wurden.«

Für sein Engagement hat Weskott inzwischen eine Menge Auszeichnungen erhalten, vom »Göttinger Lorbeer« der Literarischen Gesellschaft bis hin zum Bundesverdienstkreuz. 2008 wurde der Pfarrer mit der Karl-Preusker-Medaille der Deutschen Literaturkonferenz geehrt.

»Bücher gehören nicht auf den Müll.« Martin Weskott, geboren 1951, ist seit 1979 Pfarrer der St. Johannes-Kirchengemeinde in Katlenburg bei Göttingen. Der Literaturfreund hat in den vergangenen 20 Jahren insgesamt 800 000 Bücher aus DDR-Verlagen vor dem Schredder für die Nachwelt bewahrt. www.buecherburg.de
»Bücher gehören nicht auf den Müll.« Martin Weskott, geboren 1951, ist seit 1979 Pfarrer der St. Johannes-Kirchengemeinde in Katlenburg bei Göttingen. Der Literaturfreund hat in den vergangenen 20 Jahren insgesamt 800 000 Bücher aus DDR-Verlagen vor dem Schredder für die Nachwelt bewahrt. www.buecherburg.de
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