Gerechtigkeit, Freiheit und die Lasten

Das neue Buch von Sahra Wagenknecht

  • Erhard Crome
  • Lesedauer: 4 Min.
Gerechtigkeit, Freiheit und die Lasten

Bereits der Titel ist Programm. Und er ist Provokation – in der Bundesrepublik Deutschland wurde gern mit dem Slogan Wahlkampf gemacht: »Freiheit statt Sozialismus«. Sahra Wagenknecht stellt überzeugend dar: Der heutige, real existierende Kapitalismus bedeutet tendenziell die Abschaffung von Freiheit, zumindest derer, die von ihrer Hände oder Kopf Arbeit leben. Und es lohnt, neu über eine »soziale Marktwirtschaft« zu reden, die diesen Namen wirklich verdient. Das Buch ist zugleich ein Angebot zur Diskussion an all jene, die die jetzige Welt nicht für die beste aller möglichen Welten halten, jedoch Verfechter marktwirtschaftlicher Wirtschaftsverhältnisse sind.

Die Klassiker der sozialen Marktwirtschaft, wie Wilhelm Röpcke, Walter Eucken, Ludwig Erhard, gar Friedrich von Hayek, nimmt die Autorin beim Wort und misst das jetzt Existierende daran, was versprochen wurde. Die Parteien, die für die Zustände politisch verantwortlich sind, tragen Worte wie Leistung, Wettbewerb und Kreativität gern vor sich her, haben die Sache selber aber auf dem Altar der Interessen einer global orientierten Finanzoligarchie geopfert. »Soziale Marktwirtschaft« hat notwendige Fundamente. Dazu gehören das Sozialstaatsprinzip, die Verhinderung wirtschaftlicher Macht, persönliche Haftung der Wirtschaftsakteure und eine Gemischte Wirtschaft – der Staat solle in jenen Bereichen selbst tätig sein, die über Wettbewerbsmärkte nicht organisiert werden können und in denen private Monopole private Wirtschaftsmacht nach sich ziehen.

Die Liberalisierung des EU-Binnenmarktes, so führt die Autorin aus, hat eine Verwässerung der Kartellkontrolle gebracht und die europäischen Entwicklungen in das »russische Roulette« der Finanzgiganten eingefügt. Und Banken dienen nicht der Bereitstellung von Krediten für die Wirtschaft, sondern wurden zu Investitionsverhinderern. Da Profite nicht aus einer selbsttragenden Wachstumsdynamik resultierten, setzte das neoliberale Programm auf Umverteilung zu Lasten der Löhne und Gehälter sowie des Staates und der Sozialaufgaben. Das globale Investmentbanking ist als Oligopol von wenigen Finanzgiganten organisiert, die auf dem sogenannten Primärmarkt jene Papiere zusammenbasteln, die dann anderen verkauft werden. Die Marktmacht führt zu garantiertem, risikolosem Gewinn. Realwirtschaftlicher Nutzwert ist nicht gefragt.

Mit den Rettungspaketen in der Finanzkrise, so Wagenknecht, wurden die Banken haftungsfrei gestellt und die Kosten den Steuerzahlern aufgebürdet. Es wurde ein Kapitalismus organisiert, in dem hohe Einkommen mit Leistung nichts mehr zu tun haben, für eine Finanzoligarchie Wettbewerb und persönliche Haftung für die Risiken abgeschafft sind und mit den Privatisierungen und der Staatsverschuldung auch die Voraussetzungen für eine Gemischte Wirtschaft unterminiert wurden. Wenn jedoch die Wirtschaft Politik macht, stirbt die Demokratie. Es gehe deshalb nicht nur um wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und soziale Gerechtigkeit, sondern auch um Bedingungen freiheitlichen Handelns.

Einfache Lösungen gibt es nicht. Sahra Wagenknecht plädiert für ein weitreichendes Entschuldungsprogramm, das die Verstaalichung der großen Finanzkonzerne einschließen muss. Die Stabilität des Finanzsektors sei ein öffentliches Gut. Werden bestimmte Bereiche öffentlichen Interesses für eigentumsunfähig erklärt, entsteht auch keine Entschädigungspflicht. Die Autorin verweist hier auf die Abschaffung der Sklaverei in den USA: Nachdem das Sklavereiverbot in die Verfassung aufgenommen war, wurden Entschädigungen der Sklavenhalter ausdrücklich verboten.

Der Finanzsektor muss radikal geschrumpft werden und wieder als Diener der Realwirtschaft fungieren. Großunternehmen von gesamtwirtschaftlicher Relevanz gehören in öffentliche Hände. Der Staat ist nicht an sich ein schlechter Unternehmer, es kommt auf das Anreizsystem an: Erfüllung des Versorgungsauftrages statt Redite. Dazu kann beitragen, in öffentlichen oder Belegschaftsunternehmen Gewinne nicht auszuschütten, sondern im Unternehmen zu belassen. Große Vermögen wären durch Vermögenssteuer und Erbschaftssteuer zu reduzieren. In anderen Bereichen soll tatsächlicher Wettbewerb bestehen.

Es gibt Marktwirtschaft ohne Kapitalismus und Sozialismus ohne Planwirtschaft. Wagenknecht plädiert für einen »kreativen Sozialismus«, der »sich von der Idee des planwirtschaftlichen Zentralismus verabschiedet«. Fazit: »Der Kapitalismus ist zum wichtigsten Hinderungsgrund für ein Leben in Freiheit, Demokratie und Wohlstand geworden. Deshalb lautet die politische Forderung unserer Zeit: Freiheit statt Kapitalismus.«

Es ist eine bemerkenswerte Arbeit, schlüssig geschrieben und klar durchargumentiert. Wagenknecht hat die alte sozialistische Tradition wieder aufgenommen, als politische Person, die mit im Zentrum der Arbeit der Partei steht, selbst theoretisch zu arbeiten und damit gleichsam den geistigen Vorlauf für die eigenen politischen Positionen zu schaffen und in die öffentliche Diskussion einzubringen. Sozialistische Programmatik und Politik nach dem Fiasko des Realsozialismus kann weder darin bestehen, die alten Sprüche von vor 1989 zu wiederholen, noch die der jetzigen »Sieger der Geschichte« nachzuplappern. Das neue Buch von Sahra Wagenknecht trägt dazu bei, linker Politik eine eigenständige theoretische Grundierung zu geben. Das gilt unabhängig davon, ob man alle ihre Argumentationen und Folgerungen teilt.

Sahra Wagenknecht: Freiheit statt Kapitalismus. Eichborn, Frankfurt am Main. 365 S., geb., 19,95 €.

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