»Zu 60 Prozent Motivation«

Ali Bulat über seine türkische Nachhilfe-Schule in Berlin-Kreuzberg

  • Lesedauer: 7 Min.
Ali Bulat wurde 1969 in der Türkei geboren, ging aber bereits in Berlin in die Grundschule. Später studierte er Betriebswirtschaftslehre an der Fachhochschule für Wirtschaft Berlin. 2006 eröffnete er in Kreuzberg eine türkische Nachhilfe-Schule. Für das ND sprach Antje Stiebitz mit ihm.
»Zu 60 Prozent Motivation«

ND: Warum haben Sie sich vor sechs Jahren entschlossen, eine türkische Nachhilfeschule zu eröffnen?
Bulat: Ich war damals arbeitslos und es war die Zeit nach der PISA-Studie. Mit meinem Freund, Wolfgang Edelstein vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, habe ich mich häufig über die Konsequenzen von PISA unterhalten. Wir beobachteten, wie sich alle – Lehrer, Eltern, Schüler – gegenseitig die Schuld zuschoben. Dabei tragen alle ein Stück Verantwortung dafür. Schulverweigerer wurden meist als ein typisches Migrantenphänomen betrachtet. Aber niemand hat sich angesehen, warum die Kinder keine Lust auf Schule haben. So wurde die Idee zur Nachhilfe-Schule geboren. Wolfgang sagte: »Mache das und mache es besser«.

Was ist das Besondere an Ihrer Schule?
Das Besondere an unserer Nachhilfeschule ist, das wiederhole ich auf jeder Teamsitzung: 60 Prozent unserer Arbeit besteht darin, unsere Schüler zu motivieren. Weitere 20 Prozent verwenden wir darauf, sie bei der Stange zu halten. Und die restlichen 20 Prozent gleichen wir schulfachliche Defizite aus.

Warum ist die Motivation der Kinder so schlecht?
Wir beobachten, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund – und ich kann mir nicht vorstellen, dass mich alle Schüler gleichermaßen belügen – weniger Anerkennung bekommen als deutsche Schüler. Sagen sie etwas falsch, wird das schroffer kommentiert als bei deutschen Schülern. Während gute Beiträge einfach hingenommen werden, ohne sie anerkennend zu kommentieren.

Liegt diese Ungleichbehandlung wirklich an Ressentiments gegenüber Ausländern oder hat das oft auch mit dem sozialen Hintergrund zu tun?
Ich kann nur das wiedergeben, was meine Schüler und Schülerinnen an mich herantragen. Sie glauben, dass sie von den Lehrkräften nicht gemocht werden. Und das spiegelt sich dann fast ausnahmslos in der Ungleichbehandlung gegenüber deutschen Schülern wieder.

Beweist Ihre Schule, dass unser Bildungssystem an der Aufgabe der Integration gescheitert ist?
Hier habe ich immer das Gefühl, vielen engagierten Lehrkräften Unrecht zu tun, aber ich kann das mit ja beantworten. Bei uns, und wir haben auch deutsche Schüler, funktioniert alles über Anerkennung und Motivation. Wir haben keine Maschinen vor uns. Das sind Kinder und Individuen, die an einem Tiefpunkt immer wieder Auftrieb brauchen. Für diesen Schub, reicht oft ein »Bleib dran«, »Du schaffst es« oder »Die schlechte Note in der letzten Klassenarbeit ist nicht entscheidend«. Das wirkt sich positiv auf das Verhalten und damit auf die Schule aus.

Was ist an Ihren Schülern anders als an deutschen Schülern?
Grundsätzlich ist der Großteil der türkischen oder ausländischen Schüler, die zu uns kommen integriert. Integriert in dem Sinne, dass sie sich in die Gesellschaft eingefügt haben und sowohl das Deutsche zum Teil angenommen haben, aber sich auch als Türken beziehungsweise andere ausländische Gruppierung einbringen. Sie haben den Vorteil der kulturellen Vielfalt, den die deutschen Schüler in der Regel nicht haben. Schwierig ist für sie, dass sie häufig missverstanden werden. Und dann gibt es wiederum Lehrkräfte in Schulen, die versuchen, sie zu gut zu verstehen. Anstatt sie einfach nur als Kinder und Jugendliche zu akzeptieren, und auf dem Weg einer guten Ausbildung zu begleiten.

Worin besteht der Vorteil des multikulturellen Hintergrunds?
Deutsche Schüler und Schülerinnen lesen deutsche Bücher, englische Bücher, vielleicht noch französische, aber die türkischen lesen zusätzlich noch türkische Bücher. Sie bewegen sich in zwei Kulturen und integrieren diese. Das ist eine Kompetenz.

Welche Erwartungen haben die Eltern an Sie?
Sie haben oft zu viele Erwartungen. Da verstehe ich dann die Lehrkräfte, die in den Schulen unterrichten. Denn die Eltern geben oft die Verantwortung an die Lehrer ab. Und gleichsam kritisiert die Lehrerschaft wiederum die Eltern. Und schließlich landet der Erziehungsauftrag bei mir. Denn neben dem Unterrichten haben wir es vor allem mit Erziehung zu tun. Das bedeutet Regeln lernen: Beispielsweise das Grüßen per Handschlag, und dass man sich dabei in die Augen schaut. Migranten, vor allem Türken oder Araber sprechen oft von Respekt. Ich denke, Respekt kann man erst mal damit bekunden, in dem man sich per Handschlag grüßt und dem anderen dabei in die Augen blickt.

Warum geben die Eltern den Erziehungsauftrag ab?
Überforderung, Desinteresse, oft arbeiten sie sehr viel und haben einfach keine Zeit dafür. Im Prinzip ist das eine Zwischengeneration: An ihnen ist der Erziehungsauftrag vorbeigegangen und sie wissen nicht, was sie da eigentlich machen sollen. Also suchen sie bei mir Beratung und Unterstützung.

Was ärgert Sie an der deutschen Integrationsdebatte?
Dass tatsächlich häufig auftretende Problematiken so dargestellt werden, als würden alle Ausländer – ich nenne sie jetzt mal Ausländer – in Deutschland nicht integriert werden. Das ist ein großes Unrecht, denn die große Masse der Integrierten sieht man nicht. Und an den Bengels, die andauernd in den Medien auftauchen, festmachen zu wollen, alle Türken seien nicht integriert, das ist absurd.

Apropos absurd: Berlins ehemaliger Finanzsenator Thilo Sarazzin wird weiterhin SPD-Mitglied bleiben.
Sarrazin wird hoffentlich irgendwann einmal das Geld, das er durch sein Buch erwirtschaftet hat – vielleicht die Zinsen davon – zur Verfügung stellen, um das, was er in seinem Buch beschrieben hat, durch konkrete Projekte zu korrigieren. Ich schätze ihn so ein. Und als Mitglied der SPD ist es doch nur naheliegend, dass er auch etwas verbessern will.

Gute Idee.
Eine Gesellschaft kann sich nicht nur an den guten Kindern orientieren und sich mit ihnen brüsten. Wir müssen auch für die anderen Verantwortung übernehmen. Für die, die es nicht geschafft haben. Und wir müssen uns alle – ich beziehe mich da mit ein – eingestehen, dass wir auch Verantwortung daran tragen, wenn jemand auf den falschen Weg ist. Und dass wir auch verantwortlich dafür sind, die Betroffenen wieder auf die richtige Bahn zurückzuholen. Wir können so viel abschieben, wie wir wollen, aber damit ist es nicht getan. Eine Gesellschaft besteht nicht nur aus positiven Ergebnissen, sondern auch aus den negativen. Und damit müssen wir umzugehen lernen.

Es wird viel über Perspektivlosigkeit gesprochen. Sehen Sie für die Schüler eine erreichbare Perspektive?
Ich sehe tatsächlich Perspektivlosigkeit und Ideenlosigkeit. Ich gehöre noch zu einer Generation, die mit 15 oder 16 halbwegs wussten – auch wenn wir es dann nicht verwirklichen konnten – was wir wollten. Wenigstens erst einmal das Studium. Bei der heutigen Generation sehe ich das nicht. Doch hier wird viel zu wenig erwähnt, welche Allmacht die Medien in Bezug auf unsere Kinder entfaltet haben. Ideen- und Perspektivlosigkeit sind letzten Endes auch darauf zurückzuführen ist, dass die Kinder täglich mit so vielen Ideen und Perspektiven überhäuft werden, dass sie entscheidungsunfähig werden. Übrig bleibt dann der Wunsch, reich und erfolgreich zu werden. Aber das Wie bleibt auf der Strecke.

Werden die Kinder mit den Medien zu viel alleine gelassen?
Ich beobachte, dass unsere Kinder das Schreib- oder Hilfsmittel PC nur fürs Internet, für Musik, und fürs Chatten nutzen. Und gleichzeitig sind sie nicht in der Lage, ein Schreiben in Word zu verfassen oder eine Tabelle in Excel anzulegen. Das ist ein großes Problem. Für die Nutzung der Medien brauche die Kinder Hilfe, das gilt nicht nur für die Kinder mit Migrationshintergrund, sondern auch für die deutschen Schüler. Es wird sich gesellschaftlich rächen, wenn wir ihnen keine Hilfestellung geben.


Das deutsche Schulsystem diskriminiert systematisch. Benachteiligt sind vor allem die Einwandererkinder aus der zweiten und dritten Generation: Bei der PISA-Studie 2006 lag ihr Anteil in Lesekompetenz unterhalb der Kompetenzstufe 3 bei 47 Prozent. Das Risiko, arbeitslos zu werden, ist auf den Kompetenzstufen 1 und 2 national wie international aber ungefähr doppelt so hoch wie in den höheren Kompetenzstufen.

Unter den Migranten sind die türkischen Einwanderer besonders häufig von Bildungsdiskriminierung betroffen. Deutschlandweit liegt der Anteil der Schüler mit türkischem Migrationshintergrund bei 4,3 Prozent. Mit 11,4 Prozent an Hauptschulen und 6,8 Prozent an Sonderschulen sind sie dort überproportional vertreten, mit einem Anteil von 2,6 Prozent an den Gymnasien hingegen unterrepräsentiert. ND

Quelle: Mikrozensus 2009, Statisisches Bundesamt, Berechnung: Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung

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