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Organe sind nichtbinär
Bei Mäusen wie auch bei Menschen sind fast alle Körperteile nicht geschlechtsspezifisch
Binär, nonbinär, divers, Selbstbestimmungsgesetz – die Frage der Geschlechtsidentität wird kontrovers, ideologisch oder gar polemisch diskutiert. Traditionelle Vorstellungen gehen von dem rein binären Modell Mann – Frau aus. Das stimmt und stimmt wiederum nicht.
Ein Forscherteam um Diethard Tautz vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Biologie bringt es auf den Punkt: »Nur Sexualorgane trennen klar.« In einer Zusammenfassung der Studie von Tautz und Kollegen mit dem sperrigen Titel »Schnelle evolutionäre Veränderungen und überlappende Varianzen geschlechtsspezifischer Genexpressionsmuster machen eine einfache binäre Geschlechtsklassifizierung somatischer Gewebe unmöglich« heißt es: »Biologisches Geschlecht wird meist in einfachen binären Begriffen beschrieben: männlich oder weiblich. (…) Nur Hoden und Eierstöcke sind klar unterscheidbar. In allen anderen Organen finden sich mosaikartige Kombinationen von weiblichen und männlichen Eigenschaften.«
In der im September im Wissenschaftsmagazin »eLife« veröffentlichten Studie zeigten Mäuse vor allem bei Nieren und Leber große Unterschiede, Menschen hingegen beim Fettgewebe. »Das Gehirn dagegen weist bei beiden Arten nur minimale Unterschiede auf«, so die Forschenden.
»Nur Hoden und Eierstöcke sind klar unterscheidbar.«
Diethard Taut et al. Max-Planck-Institut für Evolutionäre Biologie
Um diese Vielfalt messbar zu machen, entwickelten die Wissenschaftler den Sex-Bias-Index (SBI). Dieser fasst die Aktivität aller männlich und weiblich spezifischen Gene in einem Organ zu einem einzigen Wert zusammen. Während der SBI in den Sexualorganen eine klare Trennung zeige, lägen die Werte anderer Organe oft so dicht beieinander, dass Männer und Frauen nicht eindeutig zu unterscheiden seien. »Sogar innerhalb eines Individuums können sich Organe unterschiedlich ausprägen. (…) Es entsteht ein mosaikartiges Muster von Geschlechtsmerkmalen, das dem Bild einer klaren Trennung widerspricht.«
Geschlechtsspezifische Gene kommen, so die Forschenden, häufig in »Modulen« vor, die gemeinsam reguliert werden. »Evolution verändert Geschlechtsunterschiede also oft nicht an einzelnen Genen, sondern indem ganze Netzwerke neu angeordnet werden«, heißt es in der Studie. Der treibende Faktor dafür sei die sexuelle Selektion als ständiger evolutionär Konflikt zwischen den Interessen von Männchen und Weibchen. »Dieser Konflikt kann nie vollständig aufgelöst werden, da jede Anpassung wiederum neue Gegensätze schafft.«
Beim Menschen, so die Autoren der Studie, zeigten sich deutlich weniger geschlechtsspezifische Gene als bei Mäusen, dafür eine noch stärkere Überlappung von Männern und Frauen. »In unserer Spezies sind die Unterschiede also schwächer ausgeprägt, was die Vorstellung von einer strikten binären Einteilung zusätzlich infrage stellt. (…) Statt den Körper anhand molekularer Merkmale streng als männlich oder weiblich einzuordnen, sollte er als ein komplexes Mosaik verstanden werden«, heißt es in der Studie.
Für Tautz ist das neue Selbstbestimmungsgesetz »fehlgeleitet«. Tautz sagt: »In dem wurde sogar noch eine zusätzliche Kategorie ›divers‹ geschaffen, statt einfach die offizielle Geschlechtszuordnung ganz fallen zu lassen.«
Was heißt das nun für die Kritik, medizinische und pharmakologische Forschung basiere zu sehr auf männlichen Probanden? »Frauen erleben Krankheiten anders – trotz positiver Entwicklungen in den letzten Jahren orientieren sich Diagnose- und Therapieverfahren noch immer viel zu häufig am männlichen Standard«, sagte Galina Fischer vom Ärzteberufsverband Hartmannbund anlässlich des Internationalen Tags der Frauengesundheit im Mai 2025. Zudem würden geschlechtsspezifische Aspekte in der medizinischen Ausbildung und Forschung noch fehlen.
Diethard Tautz schreibt in einer E-Mail an »nd.DieWoche«: »Das Mosaikmodell für männlich/weiblich, das wir (und andere) finden, würde eigentlich dagegen sprechen, pauschale medizinische Unterschiede nach Männern und Frauen zu machen. Andere Klassifikationen wie zum Beispiel Raucher/Nichtraucher oder Übergewicht/Normalgewicht wären und sind da sicher nützlicher.« Aber Tautz betont auch: »Letztlich sollte jede Person für sich selbst betrachtet werden, was gute Hausärzte auch tun.«
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