Tief unten: Jedes Wort ein Maul-Wurf

Michael Thalheimer inszenierte an der Berliner Schaubühne Lew Tolstoi: »Die Macht der Finsternis«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Geilheit sprengt Fesseln. Gier will Raum, Geld möglichst die Welt. Wer aus dem Rahmen der Gebote fällt, möchte nicht stürzen, er will fliegen. Hier geht fliegen nicht. Hier ist das Verlies schlechthin. Die Bühne panoramabreit wie eine aufgeschnittene schwarze Erdwand. Da hinein geschnitten ein kleines Holzviereck, mit Bett und Kruzifix. Das Sterbezimmer des Bauern Pjotr. Links und rechts zwei lange schmale Gänge, wie Stollen, die führen ins Freie, das hier eine lächerliche Illusion ist; alles so niedrig, dass die Menschen nur kriechen oder sich sonst wie – erbärmlich verbogen, geknickt, verzwergt – hin- und herschleppen können.

Geilheit, Gier, Geld: Was explodieren will, kann hier nur implodieren. Bersten kann hier bloß der Mensch. Er platzt vor böser Begierde. Es wird sehr laut geschrien: Jedes Wort ein Maul-Wurf. Die Erdkreaturen möchten sich die Seele aus dem Leib schreien, vielleicht haben sie ja eine, so wenigstens käme sie zum Vorschein, aber nichts. Nur Blut läuft dem todsiech brüllenden Pjotr aus dem Mund.

Michael Thalheimer inszenierte an der Berliner Schaubühne »Die Macht der Finsternis«, ein Drama von Lew Tolstoi, geschrieben 1886, Bühne: Olaf Altmann. Eine Familie. Verirrte Liebe. Verordnete Heirat. Verbohrter Hass. Vertierte Vergewaltigung. Verfehlte Existenz. Bauern zwischen Einfalt ländlicher öde und lockendem Anfangskapitalismus. Herr, Frau, Knecht, Vater, Mutter – ein Kreuz und Quer der Verletzungen und Vernutzungen und Vernichtungen. Ekelhaft. Man träumt Reichtum und verschwendet ihn. Man träumt sinnvolle Arbeit und ist nur Sklave. Man träumt Befreiung und verstrickt sich nur tiefer ins Leiden an der falschen Moral. Man will draußen gut dastehen und tötet drinnen ein Bastard-Baby, »dass die Knochen knacken«.

Man hat in dieser Todeszelle nichts, nur den Traum vom schönen Leben. Dieser Traum, ein Ich-will-mehr-haben-Traum, er stiftet Leid über Leid, er tötet Leben, er macht es wahrlich kalt, weil dieser Traum, im Zentrum von Schmutz und Ausweglosigkeit, nur immer überschießender und ungehemmter wird. Etwas erreicht hat man in diesem Dasein erst, wenn man so schlimm ist wie die anderen. Noch besser: schlimmer als alle.

Thalheimer macht aus einer selten gespielten Gottlosigkeitsanklage eine Schrei-Oper der aggressiven Verzweiflung. Aber so, wie Judith Engel aus einer mephistophelischen Giftköchin und Mordstifterin ein abstoßendes, jedoch auch faszinierendes Wesen macht, weil sie dieser Teufelin doch eine tiefe Sehnsucht nach Ausbruch und Aufstieg unterlegt; so, wie der verreckende Pjotr des Kay Bartholomäus Schulze, der noch als Toter wie ein zufriedenes Gespenst durchs Familiengruppenschlussbild lächeln wird, ein Keifer und ein Kind zugleich ist; so, wie Thomas Bading den Vater als einen zitternden, händebebenden denk- und redeschwachen Liebenswertgütling spielt, dem das mahnende Wort »Gott« wie eine Perle von den flatternden Lippen vor die Familiensäue fällt – so, wie sie alle miterzählen, was im Finstern ungesehen bleibt, so ist es vor allem der Nikita des Christoph Gawenda, Ex-Knecht, Verschwender, Mörder, Mitmacher, schwitziger Gierkopf, der am Ende mitten in diesem Grab ein bestürzend wahnklarer Reuemensch wird. Der alle Schuld auf sich zieht und sich zum Menschen steigert. Indem er am eigenen Unmenschlichen gleichsam wahnsinnig wird.

Das ist Sündercharaktergröße, mitten im Zwingkreis dieser verdorbenen Erdkreaturen, die vor den Gesichtern Stoffmasken tragen, mit großen Augen und Mündern – ungelenk und schwärmerisch aufgemalte Reste einer Kinderhoffnung: Das Leben könnte Spiel werden. Und bleiben. Aber unter den Stoffmasken verrattete Augen, verrottete Züge.

Individuelle Gestricktheit und soziale Welt. Das eine fühlt man mit, das andere denkt man mit. Die Erschütterung über jenes schwarztiefe Böse, das sich bei Thalheimer neunzig Minuten lang ins Gemüt frisst, als wolle es Säure sein (es tut wahrlich weh, dieses Brüllen, dieses Rohe, dieses Verkrüppelte aller Bewegungen!): Diese Erschütterung nimmst du zuschauend hin als Ausgeburt ganz persönlicher Seelenperversitäten, sagst dir aber sofort, so böse werde der Einzelne doch vorwiegend, weil die Verhältnisse ausreichend Gift geben. Aber: Im gleichen Moment, da du diese Verhältnisse bedenkst (der Mensch als Produkt sozialer Bedingungen) und dir damit das Böse der Welt erklärst, erschrickst du doch vor der sich geradezu nuttig anbietenden Vermutung, der Mensch an sich sei, unabhängig von Verhältnissen, grausam, hässlich, böse, Dreck.

Der Mensch grausam, hässlich, Dreck? Stimmt!, sagen die einen, im Blick auf die Welt. Aber dann blicken sie auf ihr eigenes Leben und werden vielleicht zornig laut über Thalheimers Generalurteil.

Der Mensch grausam, hässlich, Dreck? Stimmt nicht!, sagen andere, im Blick auf sich selbst. Aber dann blicken sie auf die Welt und werden vielleicht still bedrückt wegen Thalheimers Generalurteil.

Die einen und die anderen. Zusammen im Theater, getrennt danach, vielleicht jedoch hier und da im Gespräch. Nicht über Thalheimer, über sich selbst. Das ist die vage Hoffnung der Kunst.

An der Berliner Schaubühne läuft mit dieser Inszenierung ein Abend ab, den man möglicherweise nach zehn Minuten für erkannt, durchschaut hält. So variationsarm, so gleichförmig, so verspuckt und verblutet und verröchelt und vergrinst und verheult und verjault. Aber es wirkt nach, dieses psychisch Abnorme, das sich mit dem Bastard Freiheit trifft, der scheinbar alles erlaubt – und also erlaubt der gierige Mensch sich irgendwann alles. Macht der Finsternis? Es ist der Kampf um den Platz an der Sonne! Den die Gestalten Thalheimers in jener Tiefe kämpfen, die keinen Weg ins wirklich Helle hat. Der Blick auf dies genial schreckliche Bühnenbild kippt dich zu mit Assoziationen: Von unten auf; Nachtasyl; zum Lichte empor, lichte Zukunft. Es wird nur immer finsterer.

Am Ende besagter Nikita: »Ich bin an allem schuld!« Ein Schrei, immer wieder. Quälend. Nervig rasselnd. Thalheimer lässt diesen Geläuterten durch Scheinwerfer von unten zur Statue des explodierenden Gewissens erstarren. Dies Erstarren ist, obwohl die arme Kreatur in einer Erde versinken möchte, in der sie längst vegetiert – eine Erhebung. Da sucht einer ein Kreuz, wie man Heimat sucht. Da schreit sich einer in Wahrheit hinein, die ihn brandmarkt – aber was hat ein Mensch denn weiterzugeben als sein Schuldweh?

Tritt, sagt Hölderlin, auf deinen Schmerz, und du bist erhöht. Es ist der Schmerz des Schuldgeständnisses. Gegen Selbstbegnadigungstechniker, gegen Rechtfertigungssäusler, gegen Tätschler der objektiven Bedingungen. Gegen die berufsbedingten Ironiker, die jedes Eingeständnis von Schuld noch auf eine Weise illuminieren müssen, dass es trotzdem als siegreiche Pointe wirken darf.

Dagegen setzt Thalheimer einen Schuldbewussten, der in seiner Ehrlichkeit erschüttert, weil ihn diese Ehrlichkeit – in gegebener Welt – vernichten wird. Eine Umkehr, die ihn nicht retten kann. Und doch erlöst.

Nächste Vorstellung: 17. Juni

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