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  • 9. ND-Lesergeschichten-Wettbwerb

Dank an den Sachsenexpress

Günter Naumann aus Eisenhüttenstadt

  • Lesedauer: 4 Min.
Die Tochter hat den 73-jährigen Metallphysiker animiert, seine Geschichte zu Papier zu bringen.
Die Tochter hat den 73-jährigen Metallphysiker animiert, seine Geschichte zu Papier zu bringen.

Mein erstes Studienjahr an der Bergakademie Freiberg in Sachsen fiel in das Jahr acht des 40-jährigen DDR-Kalenders. Dieses Jahr 1957 nach dem über 2000 Jahre alten christlichen Kalender sollte eine große Bedeutung für mein weiteres Leben erlangen. Das hat auch etwas mit mehr oder weniger vollen Zügen zu tun.

Zunächst handelte es sich um den Freiberg-Nossen-Riesa-Zeithain-Express, umsteigen in Nossen und Riesa, 60 km in zwei und einer halben Stunde – Fahrradgeschwindigkeit. Doch in dem Zeitalter vor der Herrschaft des Automobils war das die einzige Möglichkeit, am Wochenende regelmäßig den heimatlichen Ort im Norden Sachsens zu besuchen.

Bereits nach wenigen Wochen gab es hinter den Waggonfenstern wenig Neues zu sehen, sofern mangels Putzkapazität bei der Reichsbahn überhaupt etwas zu sehen war. Um der Langeweile zu entgehen, hatte ich mir angewöhnt, den leichtgewichtigen Lehrbrief des Lehrstuhls für den Russischunterricht auf die Reise mitzunehmen.

Die Fahrzeit nur in einer Richtung reichte locker aus, um Inhalt und Vokabeln des aktuellen Lehrtextes fest im Gedächtnis zu speichern. In den wöchentlichen Seminaren hielten mich alle, einschließlich des Lehrers, für ein Sprachgenie. An meiner Erweiterten Oberschule in Riesa hatte davon niemand etwas bemerkt, ich selbst auch nicht. Auf dem Abiturzeugnis stand eine »Drei« für das Fach Russisch, die schlechteste Note des gesamten Zeugnisses.

Über meinen kleinen Trick in den Zügen der Reichsbahn hatte ich in Freiberg nie gesprochen. Ob sich mein vermeintliches Sprachtalent an der Akademie rumgesprochen hat, weiß ich nicht. Jedenfalls wurde ich gegen Ende des zweiten Semesters völlig unerwartet zu einem Gespräch bei der Hochschulleitung gebeten. Nach längerer Vorrede über gesellschaftliche Notwendigkeiten, die mir aus früheren ergebnislosen Gesprächen zur Offizierswerbung bekannt vorkam, wurde mir mit einer ausführlichen Begründung und einigem Nachdruck angeboten, mein Studium vom dritten Semester, also vom Herbst an, nicht mehr in Freiberg, sondern in Moskau weiterzuführen.

Ich glaube, dass ich sehr blass wurde, es war eine zu große Überraschung. Natürlich erkannte ich, dass dieses Angebot nicht nur eine große Herausforderung war, sondern auch eine Ehre und Anerkennung darstellte, eine Chance für das Leben. Allein, ich fühlte mich in Freiberg sehr wohl und hatte keine Vorstellung von dem, was mich in Moskau erwartete.

Nach längerem Überlegen, Gesprächen mit Eltern und Freunden fiel die Entscheidung für den unbequemeren aber auch spannenden Weg.

Zur Aufbesserung der Russischkenntnisse wurden mir noch einige Wochen in einer der 12. Klassen an der ABF in Halle verordnet. Hier ging die Abiturvorbereitung der von ihren Oberschulen für ein Auslandsstudium vorgesehen leistungsstarken Schüler ein Jahr lang mit intensivem Fremdsprachenunterricht einher.

Für mich war es mehr eine symbolische Aktion, ich hätte sie mir sparen können. Was ich in Halle gelernt habe, reduziert sich auf die Erkenntnis, dass meine scheinbar so grandiosen Freiberger Leistungen im Fach Russisch so gut wie wertlos waren. Die Hallenser waren mir um Meilen voraus.

Jetzt ließ ich mich aber nicht mehr verunsichern. Ende August des Jahres 1957 war es wieder eine Bahn, mit der die angehenden Studenten vom Ostbahnhof Berlin in ihre neue Zukunft fahren sollten. Sehr viel schneller als damals der Express in Sachsen war auch dieser Zug nicht, fast zwei Tage und zwei Nächte dauerte die Fahrt bis Moskau.

Doch wir reisten erwartungsvoll und bequem im Liegewagen mit sauber geputzten Fenstern, hinter deren Gardinen ich mit großem Interesse die vorüberziehende unbekannte Landschaft betrachtete. Diesmal hatte ich keinen Russischlehrbrief im Gepäck, viel zu sehr faszinierten mich die vielen neuen Eindrücke.

Fünf Jahre als Student in Moskau haben mir nicht nur für meine künftige Tätigkeit in der Stahlbranche, sondern auch für das gesamte Leben die denkbar besten Voraussetzungen geschaffen. Bis heute, mehr als 50 Jahre später, bin ich glücklich und dankbar, damals in diesen beiden Zügen gereist zu sein.

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