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  • 9. ND-Lesergeschichten-Wettbwerb

Vom Leben und von vollen Zügen

Von Edith Ockel aus Berlin (2. Platz)

  • Lesedauer: 3 Min.
Ein Foto im ND inspierierte die 77-jährige Ärztin so, dass sie sofort zu schreiben begann.
Ein Foto im ND inspierierte die 77-jährige Ärztin so, dass sie sofort zu schreiben begann.

Die frohen Springer auf der Wiese in Ihrem Aufruf zum Wettbewerb erwecken meine Erinnerung. Auf solch einer Wiese spielte ich oft mit vielen anderen Kindern. Eisenbahnschienen begrenzten sie, und aus den auf ihnen rollenden vollen Zügen winkten viele Leute aus den Fenstern fröhlich zu uns herüber.

Ich wurde gemeinsam mit etwa 40 Kindern aus verschiedenen sozialen Schichten eingeschult. Unsere Väter waren im Krieg. Die Tochter des Generals und auch die, deren Eltern das Juweliergeschäft besaßen, bewunderte ich sehr wegen ihrer hübschen Kleider und modernen Spielzeuge, mit denen ich auch gern gespielt hätte. Meiner Oma vertraute ich mein Leid an. Sie sagte: »Die Familien dieser Kinder können in vollen Zügen leben, weil sie reich sind.« Nun bewunderte ich auch die vielen Leute in den vollen Zügen, die an unserer Spielwiese vorbeifuhren. Das waren also Leute mit viel Geld.

Eines Nachts Ende Januar 1945 – wir hörten schon den Kanonendonner des sehr nahen Kampfes – schlug eine Nachbarin heftig an unsere Schlafzimmerwand und flehte meine Mutter an, sich sofort mit den vier Kindern und meiner gebrechlichen Oma auf den Weg zum Bahnhof zu begeben. Ein letzter Zug würde am frühen Morgen aus unserer Stadt Flüchtlinge in Sicherheit bringen. So begann unsere Flucht vor dem Krieg.

Da standen wir nun auf dem Bahnhof, nach einer Stunde Fußweg, vor einem vollen Zug. Meine Mutter hatte meinen kleinen Bruder im Kinderwagen und die Oma am Arm. Wir Kinder trugen im Rucksack Wäsche zum Wechseln und Lebensmittel. An einem vorderen Eisenbahnwagen erkannte ich eine Mitschülerin, die es nach Omas Meinung gewohnt war, »in vollen Zügen zu leben«. Ihre Familie hatte viele Koffer, die sie einen nach dem anderen in den Waggon reichten. Wir fanden keinen Platz. Vor den Türen der Eisenbahnwagen hingen die Menschen wie Trauben, der Zug war voll, der Bahnsteig ebenfalls.

Ein Fenster in dem Waggon vor mir wurde plötzlich heruntergelassen, ich schaute in das Gesicht eines Soldaten, der meiner Mutter winkte, ans Fenster zu kommen. Sie reichte meinen kleinen Bruder in seine Arme, er schrie fürchterlich. Meine Mutti nahm ihn wieder zurück, und hob einfach meine Oma hoch in die Arme des Soldaten, und dann konnte die liebe Oma ihr den kleinen Schatz beruhigt durchs Fenster abnehmen, wir anderen Kinder folgten auf dem gleichen Weg. Wie es aber meine Mutter geschafft hat, noch durch die Tür des Waggons zu gelangen, kann ich mir nicht vorstellen.

Der Zug fuhr an, ich stand am Fenster und sah meine einst beneidete Schulkameradin mit ihren Eltern und noch einigen Koffern auf dem Bahnsteig am vorbeifahrenden Zug stehen.

Ich war glücklich, in einem »vollen Zug« davongekommen zu sein, und ich spürte, dass meine Oma im Unrecht war, weil nicht alle Leute, die reich sind, »in vollen Zügen« fahren und somit auch nicht »leben« können.

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