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  • 9. ND-Lesergeschichten-Wettbwerb

Von einer alten Schallplatte

Karl Gropp aus Schorfheide

  • Lesedauer: 3 Min.
Ihm hat die Jugenderinnerung seines Nachbarn so gefallen, dass der 78-Jährige sie aufschrieb.
Ihm hat die Jugenderinnerung seines Nachbarn so gefallen, dass der 78-Jährige sie aufschrieb.

Januar 2002. Unser Nachbar war in depressiver Stimmung. Es hatte Streit mit seiner Freundin gegeben. Ich war alleine zuhause und lud ihn zum Mittagessen ein. Nette Gespräche in einer wohltuenden Atmosphäre würden ihn sicherlich wieder aufmuntern.

Der Tisch war gedeckt. Er liebte gute Musik – die gleiche wie ich. Ohnehin hatte ich in diesen Tagen in meinen alten Schallplatten gekramt und mir war auch meine Lieblingsschallplatte – ein Querschnitt aus »La Bohéme« – in die Hände gefallen, die ich nun auf den Plattenteller legte. Mein Nachbar hatte Platz genommen, und ich legte den Tonarm auf.

Die ersten Takte erklangen, und er rief freudig »Oh, La Bohème, meine Lieblingsoper«. Wir lauschten beim Essen der schönen Musik, und ich erzählte ihm, dass diese Aufnahme bei einem Gastspiel der Oper Bologna an der Berliner Staatsoper, seinerzeit noch in der provisorischen Spielstätte im Admiralspalast, entstanden war.

Mein Gast, damals Student an der Humbold-Universität, erwiderte, dass er wunderbare Erinnerungen an dieses Gastspiel habe. Er wollte unbedingt den berühmten Tito Gobbi hören, und es gelang ihm auch, eine Karte zu bekommen. Nach der Vorstellung eilte er zum Bühneneingang, um ein Autogramm von Gobbi zu erhalten. Eine junge hübsche Dame öffnete ihm und sagte, dass der Maestro gerade sehr beschäftigt und nicht ansprechbar sei. Er könne ihr aber das Autogrammfoto geben und sich am anderen Tag das Autogramm abholen.

Ich bemerkte zu meinem Gast, dass er wahrscheinlich die Stimme Gobbis gerade auf meiner Platte gehört habe. Ein Blick auf die Plattentasche zeigte aber, dass dieser berühmte Bariton in dieser Aufnahme nicht mitwirkte, ich muss seinen Namen aus einem anderen Anlass aus dieser Zeit in Erinnerung behalten haben.

Mein Nachbar erzählte weiter. Er bekam das Autogramm. Es war wieder die junge Schönheit vom Vortag, die es ihm überreichte – Aureliana Beltrami, die Mimi aus dieser Aufführung, wie er inzwischen wusste. Er nahm seinen Mut zusammen und fragte, ob sie Interesse habe, sich von ihm sein Berlin zeigen zu lassen. Sie sagte ja, und sie verbrachten jede ihrer freien Stunden während des Gastspieles gemeinsam. »Ich war total in die bildschöne Aureliana verliebt und sie ebenso in mich. Noch eine längere Zeit nach dem Gastspiel schrieben wir uns, bis dann die Zeit unseren Briefwechsel einschlafen ließ« erzählte er mit bewegter Stimme.

»Dann hast Du soeben nach über 40 Jahren zwar nicht Tito Gobbi aber die Stimme Deiner Jugendliebe zum ersten Mal wieder gehört. Sie ist die Mimi auf meiner Platte, ich habe den Namen mit dieser Schallplatte nie vergessen. Ich habe sie damals auch bei einigen Rundfunkaufnahmen gehört.«

Anderentags zeigte er mir ein Foto mit ihren Schriftzügen, auf dem sinngemäß stand: Von Deiner Freundin Aureliana.

Ob sich die große Beltrami in Milano, wo sie wahrscheinlich noch lebt, auch noch an dieses Erlebnis am Beginn ihrer Karriere erinnert?

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