Kein Ende der Krise in Japan abzusehen

Drei Monate nach der großen Katastrophe wurde im ganzen Land der Opfer gedacht

  • Daniel Kestenholz, Bangkok
  • Lesedauer: 3 Min.
Drei Monate dauert der Katastrophenzustand in Japan nach Erdbeben und Tsunami inzwischen. Die radioaktive Verseuchung um das zerstörte Atomkraftwerk Fukushima wird immer ernster. Wie der Betreiber Tepco am Sonntag bekannt gab, wurde nahe der Meerwasseraufnahme des AKW radioaktives Strontium gefunden. Japan ist derweil in eine neue Rezession abgerutscht, der Stuhl von Premier Naoto Kan wackelt. Und während Tausende Menschen am Wochenende gegen Atomkraft demonstrierten und das Land in einer Schweigeminute der Opfer der Katastrophe gedachte, zieht die Atomruine Arbeiter aus dem ganzen Land an.

Wenig Aussicht auf bessere Zeiten in Japan: Das Land kämpft erneut mit einer Rezession und Premier Kan, der am Samstag das Katastrophengebiet im Nordosten besuchte, um sein politisches Überleben. Die Regierung musste dieser Tage eingestehen, dass Japan völlig unvorbereitet auf die Naturkatastrophe im März war. Kleinmütig wurde auch zugegeben, dass man falsche Nuklearmessdaten vorgelegt habe. Die tatsächlichen Werte lägen doppelt so hoch. Dieses wenig überraschende Eingeständnis ist in einem 750-seitigen Bericht an die Atomenergiebehörde IAEA zu lesen. Japan müsse seine Sicherheitsvorkehrungen und Notmaßnahmen komplett überholen, lautet die späte Einsicht. Die auflagenstarke Zeitung »Yomiuri Shimbun« kritisierte die bisherigen Hilfsmaßnahmen der Regierung als »unzureichend«. Experten zufolge dürfte der Wiederaufbau des Katastrophengebietes ein Jahrzehnt dauern und umgerechnet hunderte Milliarden Euro verschlingen.

Japans große Identitätskrise und Wirtschaftsmalaise, die in den 1990er Jahren mit dem Ende der Boomära einsetzten, zeigen sich in diesen Monaten nach der Doppelkatastrophe noch deutlicher. Sie scheinen Teil des nationalen Bewusstseins geworden zu sein. Das Land steht zwar noch immer für Innovation und Fortschritt, doch nichts scheint mehr sicher, über allem schweben Fragezeichen.

Da werden selbst die strahlenverseuchten Atommeiler von Fukushima zu Magneten für Jobsuchende, die trotz der Härte und Gefahren der Arbeit aus dem ganzen Land anreisen, nur um endlich eine Beschäftigung zu finden. Wie der Betreiber Tepco am Sonntag bekannt gab, wurde nahe der Meerwasseraufnahme des AKW erstmals radioaktives Strontium im Grundwasser gefunden, mit einer Konzentration bis zum 240-Fachen über der erlaubten Höchstgrenze. Wissenschaftler sprechen von einem »Knochenkiller«, Strontium könne Leukämie (Blutkrebs) auslösen. Zuvor war das Metall auch bei Bodenproben in der Unglücksprovinz gefunden worden.

Trotzdem herrscht in Fukushima heute starker Betrieb. Täglich werden vom nahen Iwaki-Yumoto, einem für seine heißen Quellen bekannten Kurort, hunderte Männer mit Bussen ins Krisen-AKW transportiert. Sie ziehen neue Mauern hoch, räumen giftigen Atommüll und legen neue Kabel und Rohre, während der Blick unentwegt auf das um den Hals baumelnde Dosimeter fällt. Wer zu viel Strahlung abkriegt, ist den Job los. Eine Tagesschicht dauert rund drei Stunden. Doch mit der Hin- und Rückfahrt, dem mühsamen An- und Ausziehen der Schutzanzüge und ausgiebigen Duschen bleibt gerademal Zeit zum Aufstehen, Arbeiten, Essen und Schlafen.

Die meisten Anwohner haben Iwaki-Yumoto verlassen, dennoch herrscht dort Geschäftigkeit. Insgesamt 2500 Männer, darunter viele Wanderarbeiter, sind derzeit in den Pannenmeilern beschäftigt. Und das, obwohl trotz der Gefahren nicht das große Geld verdient wird. Ein 20-jähriger Arbeiter berichtete von 200 000 Yen im Monat, das entspricht einem Jahreslohn von 30 000 US-Dollar. Lediglich 300 Beschäftigte im AKW genießen nach Presseberichten den Schutz einer Sozial- und Krankenversicherung. Wer später etwa an Krebs in Folge einer Verstrahlung erkranken sollte, darf oft keine Hilfe erwarten. Japans Nuklearindustrie hat für heikle Jobs wie das Ausspülen von Abklingbecken schon immer Gelegenheitsarbeiter aus dem »informellen Sektor« bevorzugt. Immerhin haben sich die Arbeitsbedingungen seit den Anfangstagen der Krise verbessert, als noch 500 Arbeiter Seite an Seite in einem Saal zusammengepfercht waren, ohne fließend Wasser oder warmes Essen.

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