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Wider die Vierviertelwelt

20. Rheinsberger Pfingstwerkstatt Neue Musik

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Das war schon ein Slogan in den zwanziger Jahren, als in der »zivilen Welt« das Radio aufkam. »Für alle« war es bald da, nicht nur für exklusive Schichten, die sich die zunächst teuren Apparate leisten konnten. Heute dudelt fast jeder Sender von Tausenden, die es gibt, Pop. Bald jeder unter den Jungen hat Knöpfe im Ohr und schindet sein Trommelfell. Musikveranstalter gehen in die Breite. Auch Rheinsberg geht in die Breite, schon seit einiger Zeit. Ob das immer gut ist?

Die »Pfingstwerkstatt Neue Musik« und die »Rheinsberger Musiktage zu Pfingsten« bündeln die Touristenattraktion mit Chor- und Platzkonzerten, traditionellen Angeboten der Rheinsberger Musikakademie und exklusiver Neuer Musik, welche durch Aufträge, Stipendien, Studien-Aufenthalten an der Akademie zustandekommt. Ulrike Liedtke, langjährige Chefin des Hauses, arbeitet hier mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausgezeichnet. Ideen sind keine Grenzen gesetzt.

Kapellen, Ensembles, Sängerbünde aus verschiedensten Regionen gaben sich die Ehre. Von morgens bis nachts gleichsam. Die Rheinsberger Kantorei dürfte bei gutem Wetter mit ihrer »Bläserserenade zur Nacht« brilliert haben, nicht minder der Arbeitergesangverein »Vorwärts« (mit dem Rheinsberger Frauenchor). Ein Einzelner kann das natürlich nicht abarbeiten. Es würde ihm schwindeln und er müsste um seine Maßstäbe fürchten.

Die Pfingstwerkstatt Neue Musik hält indes, was sie verspricht. Carola Brauckolt kreierte ihr experimentelles Musiktheater der Geräusche »hellhörig«. Es über die Bühne im Schloss zu kriegen, soll viel Anstrengung gekostet haben. Das Leipziger Klarinettenquartett, in der deutschen Szene inzwischen berühmtes Ensembles, gab eine vorzügliche Matinee. Vier Komponisten, geboren in den Sechzigern, und Altmeister Friedrich Schenker, dessen Sohn Robert zu den Vieren gehört, kamen mit sehr unterschiedlichen Stücken zu Gehör.

Hubert Hoches und Steffen Reinholds Stücke spielen mit Motiven, Akkorden, Temporückungen, Ritardandi, führen sie durch verschiedene Register. Hoche – lustig anzuhören – integriert Sprachfetzen in die Faktur. Beide Kompositionen weiten den Horizont der musikantischen Spielmusiken, wie sie schon in den zwanziger Jahren durch Weill, Krenek, Butting, Hindemith gepflegt wurden.

Bestes aus dem »Quartett für 3 Klarinetten und Bassklarinette« des Chilenen Andrés Maupoint war der Teil »Variationen à Ligeti«. Da dudelt es in schwindelnder Geschwindigkeit hoch und runter, die Stimmen scheinen sich zu überschlagen. Christian FP Krams »Quadrophonie für Klarinettenquartett« indes testet den Raum. Die Musiker wandeln von Pult zu Pult. Sie demonstrieren, wie aus dem Nichts allmählich ein pp und mf wird, was die Klarinetten wunderbar machen können, wie der Ensemble-Klang sich zu breiter Akkordik auswächst und mehr und mehr dem einer Orgel ähnelt.

Friedrich Schenkers »Les Clarinettes des Vosges«, das er zu Papier brachte, als er 1999 die Vogesen bereist hatte, wirkte wie die Hochpotenz dessen, was vorher an Gekonntem zu hören war, nur eben Schenkersch. Jeder der Vier hatte Unerhörtes zu leisten. Alle standen dicht an dicht, als wären sie aneinander gekettet. Offenbar ein Stimulus. Auch sie wechselten die Pulte, auf engstem Raum. Die Es-Klarinette jault in dem Teil »Les Animaux'«. Darin äffen fremde Tiere einander nach. Vogelstimmen toben durch die Winde und Wipfel. Uhus schreien, als wären sie von Sinnen. Was alles in diesen Klarinetten steckt? Ein Tierkonzert bot sich dem Ohre dar, technisch so raffiniert gesetzt und instrumentiert, im Ausdruck so schön, quirlig und bildkräftig, wie es nicht einmal der Meister der Vogelstimmenmusik, Olivier Messiaen, zuwege gebracht hat.

Im Schloss-Saal überreichte Ulrike Liedtke den alljährlichen Kompositionspreis an die 1973 geborene, aus Pusan (Süd-Korea) stammende Komponistin Eun-Hwa Cho. Das Ensemble interface, international zusammengesetzt, musizierte vier Stücke von ihr. Drei davon konnten leider nicht überzeugen. Die Klavier-Piece »Et in arcadia ego« rührt allzu sehr in der Tradition um Liszt und Debussy herum. Das Trio für Akkordeon, Cello und Schlagzeug erschien überinstrumentiert. Da donnerten Pauke und große Trommel noch in die zartesten Tongebungen des Tasteninstruments hinein. Die Kammermusik »protos chronos« für Bläser, Streicher, Klavier schien völlig daneben. Sie reiht konturlose Klangobjekte aneinander und stimmte die Musiker wohl verdrießlich.

Das letzte Stück allerdings zeigte die Begabung der geehrten Frau aus dem fernen Asien. Dort floss etwas dazu, das Westeuropäischem fern steht, nämlich – ganz anders als bei Schenker – der Gesang der Vögel, ja die ganze Turbulenz dieser Welt, wie sie saust und flattert, zischt und röhrt und sich antonal und arhythmisch gebärdet, wider die Vierviertelwelt, die den Menschen fortdauernd eingehämmert wird und die obendrein so tut, als sei sie ihnen eingeboren.

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