Entführung, Bankraub, Schmuggel, Drogen

Der Argentinier Raúl Argemí über Gangster in der Diktatur

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Buenos Aires, Anfang 1978. Seit zwei Jahren regieren die Militärs, in ein paar Monaten beginnt die Fußball-WM, und El Negro, ein kleiner Ganove, sucht Anschluss an die Bande von El Polaco, einem größeren Ganoven. El Polaco betraut den Neuen mit einer heiklen Mission: Er soll eine Lieferung Rauschgift, versteckt in vier Pkws, durch Argentinien und über die Grenze nach Chile bringen. Im Landesinnern gerät der Konvoi in eine Straßensperre; es folgt eine Schießerei, zwei Drogenkuriere sterben, und El Negro taucht auf Geheiß des Polaco ein Weilchen unter. Eine Frau versorgt ihn, La Paraguaya, »ein prächtiges Weib«, so sieht es El Negro, »ein Raubtier mit den goldenen Augen eines Tigers«.

Aus der Notgemeinschaft wird ein Paar, El Negro ist besessen von der Paraguaya, zu spät merkt er, dass sie dem Boss gehört. Bei einem neuen Einsatz für El Polaco geht El Negro in eine Falle, er wird verprügelt und verhaftet. Acht Jahre später, nach der Haftentlassung, arbeitet er wieder für El Polaco, wieder geht der Einsatz schief, El Negro muss drei Männer töten. Jetzt wird ihm klar, wer Schuld hat am wiederholten Missgeschick: El Polaco. Der rachsüchtige Nebenbuhler. In einem Billardcafé treffen sich die Kontrahenten zum verbalen Showdown, und am Ende dieses Gesprächs, am Ende des Buchs, wird der Ich-Erzähler El Negro tot zu Boden sinken ...

»Und der Engel spielt dein Lied« – ein schneller, brutaler, schnörkelloser Krimi – zeigt die für viele Krimis typischen Defizite. Blasse Protagonisten, fragwürdige Zufälle, ein ambivalentes Verhältnis zu Gewalt (El Negro, die Identifikationsfigur, ist ein Killer). Betont coole Gesten, Sprüche und Szenen; über manchen liegt ein Hauch »High Noon«. Abgehackte Dialoge und abgenutzte Sprachbilder (kalte Schauer auf dem Rücken, stechende Pupillen, Augen wie Stilette, wie Gewehrläufe). Andererseits verrät das Buch einen ausgeprägten Willen zu literarischer Gestaltung: Raúl Argemí, der Verfasser, nutzt unterschiedliche Blickwinkel, er wechselt vom allwissenden Erzähler zur Ich-Perspektive einer Figur und zurück. Er arbeitet filmisch, mit Schnitten, Vor- und Rückblenden, mit Beschleunigung und Verlangsamung der Handlung bis zur Zeitlupe. Dank kurzer Kapitel bleibt das Buch spannend, der Leser kann immer folgen. Zentrum des Romans ist der eine kurze Streit zwischen El Negro und El Polaco, der finale Dialog im Billardcafé. Verblüffend: Argemí hat den Auftritt aufgesplittert in knapp zwei Dutzend Miniszenen, fast sind es Standbilder, zwischen die er seine Rückblenden schiebt.

Zu außergewöhnlicher Lektüre wird der Text immer dann, wenn der Autor den Plot verlässt. Wenn er plötzlich über die Geschichte des Einwanderungslandes Argentinien meditiert, über polnisch-jüdische Immigranten und ihren Zuhälterring »Varsovia«. Oder wenn er die Symbiose zwischen privaten und staatlichen Gangstern beschreibt: Während der Diktatur 1976-1983 drängten Militär wie Polizei ins organisierte Verbrechen – Entführung, Bankraub, Schmuggel, Drogen –, Mafia und Behörden kooperierten. Und ein Frösteln erzeugt das Buch, sobald der Verfasser seine eigene Geschichte einfließen lässt. Raúl Argemí, geboren 1946 in der Provinz Buenos Aires, war in den frühen Siebzigern Mitglied einer linken Terrororganisation. Zehn Jahre verbrachte er im Gefängnis, als »unheilbarer« Marxist saß er in der Todeszelle. (Danach ging er als Journalist nach Patagonien, 2000 zog er nach Barcelona; Argemís erster Roman erschien in den Neunzigern.) Einige Figuren im vorliegenden Buch spiegeln die Erfahrungen des Guerillero, die Straßenkämpfe, den Horror, die Folter. Doch der Verfasser widersteht der Versuchung, Taten von damals zu rechtfertigen; er enthält sich jeder Wertung, gut und böse gibt es nicht. Literatur, das sagte Raúl Argemí in einem Interview, sei für ihn auch ein Mittel, Geister und Obsessionen auszutreiben.

Auf die Widmung sei noch verwiesen, ein Sprachspiel, das zwei Idole des Autors benennt, man bemerkt ihre Spuren im Buch: »Für Rodolfo Walsh, der von Tag zu Tag besser schreibt.« Walsh, Guerillero, Krimiautor und investigativer Journalist, wurde 1977 von den Militärs ermordet. »Canta cada día mejor«, »Er singt jeden Tag besser«, ist eine Redensart in Argentinien, gemünzt auf einen Mann, der 1935 vom Himmel stürzte: Tangogott Carlos Gardel.

Raúl Argemí: Und der Engel spielt dein Lied. Roman. Aus dem Spanischen von Susanna Mende. Unionsverlag. 192 S., geb., 16,90 €.

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